Rheinische Post - Xanten and Moers
Wenn der Tank leer ist
Weil ihr die weitere Energie fürs Amt fehlt, tritt die Regierungschefin Neuseelands zurück. Dafür wird ihr Respekt ausgesprochen – weltweit. Aber welche Wirkung hat es für das Ansehen von Frauen in Spitzenämtern?
Dass die Öffentlichkeit nun nach den „wahren“Hintergründen suchen werde, hat Jacinda Ardern gleich vorweggenommen, als sie vor Kurzem in der ersten Pressekonferenz des Jahres ihren Rücktritt vom Amt der Premierministerin Neuseelands verkündete. Wie sie es tat, beantwortete allerdings jede Frage nach den Hintergründen: „Der Tank ist leer“, sagte Ardern. Sie wisse, was der Job der Regierungschefin ihres Landes bedeute, welche Anforderungen er stelle. Sie habe nicht mehr die Energie, um dem gerecht zu werden. „Ich bin ein Mensch, Politiker sind Menschen“, so Ardern. Darum sei es für sie der Moment zu gehen.
Bezeichnend ist, an welcher Stelle die Premierministerin mit Tränen kämpfen muss. Nämlich gleich zu Beginn ihrer knappen Rücktrittsrede, als es darum geht, dass sie den Ansprüchen nicht mehr gerecht werden kann. Den Ansprüchen des Amts. Ihren Ansprüchen. Da zeigt sich eine Politikerin, die für ihren geraden, direkten, empathischen Führungsstil gelobt und wiedergewählt wurde. Zuletzt sanken zwar ihre Beliebtheitswerte und natürlich gab das auch Anlass für Spekulationen darüber, ob Ardern den Rückzug aus strategischen Gründe vollziehe. Mitten in der laufenden Amtsperiode macht sie den Weg frei für einen neuen Ansatz im Kampf gegen den politischen Gegner, die National Party, die zuletzt an Stärke gewinnen konnte. Ein solches Kalkül wäre nicht schändlich. Politiker streben nach Einfluss, um ihre Ideen umsetzen zu können. Ardern war lange genug an der Spitze, um auch die Aussichten ihrer Partei in ihre Überlegungen einzubeziehen. Doch die Art, wie sie ihren Rücktritt vollzog, legt nahe, dass strategische Überlegungen nicht im Vordergrund standen. Sondern Arderns eigene Kräftebilanz. Ihr Entschluss, mehr Zeit für die
Familie haben zu wollen. Den Menschen wieder wichtiger machen zu wollen, als die politische Rolle. Darum hat sie sich gegen ein Augen-zu-und-weiter-regieren entschieden, und ist ehrlich geblieben. Auch mit sich.
Das verdient Respekt. Und den hat sie in vielen Reaktionen auf ihren Rücktritt von anderen Politikern bekommen. „Jacinda Ardern hat der Welt gezeigt, wie man mit Intellekt und Stärke regiert“, twitterte etwa der australische Premier Anthony Albanese. Sie habe bewiesen, dass Mitgefühl und Verständnis starke Führungsqualitäten seien. Wie andere spielte Albanese damit auf Arderns Reaktion auf das Attentat eines Rechtsextremisten in der Stadt Christchurch an. Im März 2019 hatte der Mann in zwei Moscheen 51 Muslime getötet. Ardern sprach ihr Mitgefühl nicht nur aus. Sie zeigte es. Etwa, indem sie aus Respekt bei ihrem ersten Besuch in der betroffenen Gemeinde ein schwarzes Kopftuch überzog. Und indem sie ihre genaue Ankunftszeit nicht publik machte. Es sollte kein PR-Termin werden. Bilder davon gab es hinterher natürlich trotzdem.
Auch Showgrößen aus Neuseeland meldeten sich nach Arderns Rücktritt positiv zu Wort. Anerkennung bekam sie also von Menschen, die wissen, wie hart es ist, in der Öffentlichkeit zu stehen und durch Krisen führen zu müssen, in denen die Folgen eigener Entscheidungen nicht immer klar abwägbar sind. Arderns Rücktritt ist wahrscheinlich auch eine Spätfolge von Corona – der größten Herausforderung ihrer Amtszeit. Sie setzte zunächst auf Abschottung, verfolgte eine Null-Covid-Strategie, die den Menschen ihres Landes ein weitgehend normales Leben ermöglichte. Doch geriet auch in Neuseeland diese Strategie irgendwann an ihr Ende. Es gab auch Unzufriedenheit. Ardern gab die Abschottung auf. Doch die Debatten haben wohl Kraft gekostet.
Trotz der positiven Reaktionen weltweit dürfte in der Wahrnehmung des überraschenden Abgangs dieser beliebten Politikerin allerdings auch die Geschlechterfrage eine Rolle spielen. Treten Frauen anders zurück als Männer? Sind sie eher bereit zu Selbstanalyse und Selbstkritik? Oder sind sie am Ende doch zu schwach für ein Amt, das auf die Dauer schwer an den Kräften zehrt? Vor allem, wenn man es so sehr an sich heranlässt und so ganz als Mensch ausfüllt wie Ardern.
Nun ist es immer ein Zeichen von Stärke, Schwächen zuzugeben. Und das ist keine Frage des Geschlechts. Einzuräumen, dass die Energie nicht mehr reicht, zuzugeben, dass man in der Selbstbeobachtung Defizite erkannt hat, zeugt von Rückgrat. Wer darin die Schwächen einer Frau sehen will, hat wenig davon verstanden, worum es im Leben geht. Ardern schadet mit ihrem Abgang also weder der Frauenbewegung noch dem Amt. Sie stärkt es sogar, weil sie öffentlich darüber spricht, wie herausfordernd die Arbeit in der Spitzenpolitik ist. Sie macht auch vor, dass Demokratie Macht auf Zeit ist, und dass man seinem Land einen Gefallen tut, wenn man zur rechten Zeit übertragene Ämter zurückgibt. Es gibt ja genug Beispiele in der Welt von Männern, die in hohen Ämtern zuerst die Macht sehen – und diese nicht mehr hergeben wollen. Dann werden Verfassungen geändert, Amtszeiten verlängert oder bei Abwahl Manipulationsmythen in die Welt gebracht. All das schadet der Demokratie und zeigt, dass Verantwortungsbewusstsein leider keine Zugangsvoraussetzung für hohe Positionen ist.
Ardern hat während ihrer Regierungszeit ein Kind bekommen und vorgemacht, dass das – auch bei Frauen – zusammengeht: höchste Professionalität und Familie. Sie hat den Chef der Opposition vor versehentlich geöffnetem Mikro deftig beleidigt – und daraus eine Spendenaktion gemacht. Sie hat sich menschlich gezeigt – bis zu ihrem Abgang. Damit wirkt sie weiter. Und über Neuseeland hinaus.
Einzuräumen, dass die Energie nicht mehr reicht, zeugt von Rückgrat