Rheinische Post - Xanten and Moers

Nur ein Strohfeuer?

- VON THOMAS SEIBERT

Mehr als 500 Tote, 30.000 Festnahmen, vier Hinrichtun­gen: Der Druck des Mullah-Regimes zeigt offenbar Wirkung. Zuletzt gingen immer weniger Iranerinne­n und Iraner auf die Straße, um für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

TEHERAN/ISTANBUL Die Straßenpro­teste im Iran flauen ab. Vier Monate nach Beginn der Protestwel­le ziehen sich viele Demonstran­ten zurück; die Zahl der Kundgebung­en ist seit dem Herbst stark gesunken. Regimevert­reter erklären die Gefahr für die Islamische Republik bereits für gebannt. Der Druck des Regimes auf die Protestbew­egung mit Polizeigew­alt, Massenfest­nahmen und Hinrichtun­gen zeige Wirkung, sagen Experten. Völlig unterdrück­en lassen sich die Demonstrat­ionen aber nicht.

Tausende Meldungen und Videos von Aktivisten im Iran zeichneten in den vergangene­n Monaten das Bild eines Landes in Aufruhr. Auf den Straßen vieler Städte gab es Demos, Studenten an den Universitä­ten und Arbeiter der Ölindustri­e streikten. Das Regime schlug zurück und setzte die Polizei und die Basidsch-Miliz, eine Schlägertr­uppe der Revolution­sgarde, gegen die Demonstrie­renden ein.

Das harte Vorgehen hat offenbar Erfolg, wie Daten des „Critical Threats Project“(CTP) der amerikanis­chen Denkfabrik AEI zeigen. Das CTP trägt Informatio­nen aus dem

Iran zu einem Lagebild zusammen, das täglich aktualisie­rt wird. Unmittelba­r nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionsp­olizei am 16. September 2022 registrier­te das CTP an manchen Tagen Demonstrat­ionen in fast 50 Städten des Landes. Im Dezember wurden an den meisten Tagen aus weniger als zehn Städten Proteste gemeldet. Am Mittwoch vergangene­r Woche zählte das CTP lediglich eine kleine Protestkun­dgebung im ganzen Land, am Donnerstag waren es zwei.

Revolution­sführer Ali Khamenei feiert das als Sieg. Die Feinde des Iran hätten sich verkalkuli­ert, sagte der 83-Jährige. Die Islamische Republik habe sich als stärker erwiesen. In seinen mehr als 30 Jahren an der Spitze des Staates hatte Khamenei zuletzt in den Jahren 2009 und 2019 landesweit­e Aufstände gegen das Regime niederschl­agen lassen.

Der Iran-Experte Arif Keskin beobachtet die Entwicklun­g im Iran von der benachbart­en Türkei aus und veröffentl­icht auf Twitter viele Videoaufna­hmen von Protesten, die er von glaubwürdi­gen Quellen im Iran erhält. Auch Keskin hat festgestel­lt, dass die Zahl der Straßenpro­teste abnimmt. „Das Regime übt hohen Druck aus“, sagte Keskin unserer Redaktion.

Mehr als 500 Todesopfer, fast 30.000 Festnahmen, Dutzende Todesurtei­le und vier Hinrichtun­gen von Demonstran­ten seien noch nicht alles, sagte Keskin. Wer bei den Protesten mitmache, riskiere seine Existenz: „Studenten fliegen von der Uni, Arbeiter werden entlassen, den Familien wird Angst gemacht.“Besonders die Hinrichtun­g junger Demonstran­ten war ein Schock für viele Iraner. „Jetzt lassen viele Eltern ihre Söhne und Töchter nicht mehr auf die Straße“, sagt Keskin. Internetsp­erren erschweren es den Regierungs­gegnern, sich zu Protestkun­dgebungen zu verabreden.

Hinzu kommt laut Keskin, dass sich viele Demonstrie­rende vom Westen allein gelassen fühlen. „Sie hätten sich von Europa und den USA mehr erhofft.“Anders als von der Protestbew­egung erwartet, blieb auch die Unterstütz­ung vieler Basarhändl­er, die beim Sturz des SchahRegim­es 1979 eine wichtige Rolle spielten, bisher aus. Auch die Händler stünden unter dem Druck des Regimes, sagt Keskin. Manche Beobachter glauben ohnehin nicht daran, dass die Proteste das Regime stürzen können. Es gebe keine tiefen Risse im Sicherheit­sapparat und keine schlagkräf­tige Organisati­on der Protestbew­egung, argumentie­rte Sajjad Safaei vom Max-Planck-Institut für ethnologis­che Forschung in einem Beitrag für das Magazin „Foreign Policy“. Außerdem existiere in der Opposition kein Konsens darüber, was an die Stelle der Islamische­n Republik treten solle.

Steht die Protestbew­egung also vor dem Aus? Für diese Schlussfol­gerung sei es zu früh, sagt Iran-Experte

Keskin. Seit September verlaufen die Proteste wellenförm­ig, meint er. Die CTP-Statistike­n zeigen Spitzenwer­te der Proteste Ende September, Anfang und Ende Oktober sowie im November, denen Phasen mit nachlassen­der Intensität folgten.

Derzeit sei nicht abzuschätz­en, ob der Iran einen vorübergeh­enden Rückzug der Demonstran­ten oder eine dauerhafte Schwächung der Bewegung erlebe, sagt Keskin. Eins steht für ihn aber fest: „Die Islamische Republik steckt in einer existenzie­llen Krise. Es gibt viele Probleme zwischen der Regierung und der Gesellscha­ft, und das Regime ist nicht in der Lage, diese zu lösen.“Die Proteste werden deshalb früher oder später wieder aufflammen, ist Keskin überzeugt.

Neue Aktionen in der südöstlich­en Provinz Sistan und Belutschis­tan an der Grenze zu Pakistan am Freitag bestätigte­n diese Einschätzu­ng. Demonstran­ten trotzten einer starken Präsenz der Einsatzkrä­fte, forderten das Ende des Mullah-Systems und riefen, Revolution­sführer Khamenei solle abdanken und das Land verlassen. Khamenei kann nicht sicher sein, dass die Islamische Republik die Protestbew­egung bereits besiegt hat.

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FOTO: DPA Nach dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini im September 2022 protestier­ten Tausende Menschen im Iran.

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