Rheinische Post - Xanten and Moers

Aufnahmepr­ogramm für Afghanen stockt

Pro Monat sollen 1000 Menschen nach Deutschlan­d kommen. Doch Zusagen hat es noch keine gegeben.

- VON MAARTEN OVERSTEEGE­N

BERLIN Das Bundesaufn­ahmeprogra­mm für Afghanen ging Mitte Oktober mit großen Erwartunge­n an den Start. Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, mit dem Programm erfülle Deutschlan­d seine humanitäre Verantwort­ung, man wolle vor allem Mädchen und Frauen „ein Stück Hoffnung zurückgebe­n und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbest­immung und Sicherheit“. 1000 Afghaninne­n und Afghanen pro Monat sollen bis September 2025 aus humanitäre­n Gründen aufgenomme­n werden.

Doch die Aufnahme stockt: Noch hat kein Afghane über das Bundesprog­ramm den Weg nach Deutschlan­d gefunden, wie das Innenminis­terium auf Anfrage erklärt. „Nachdem das Programm Mitte Oktober 2022 an den Start gegangen ist, konnte bereits zwei Monate später eine erste Auswahlrun­de initiiert werden. Als Ergebnis dieser Auswahlrun­de wird mit den ersten Aufnahmezu­sagen in den kommenden Wochen gerechnet“, so ein Sprecher. Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs) kritisiere­n, dass das Programm intranspar­ent sei und es an Tempo fehle. Das Ministeriu­m verweist darauf, dass man es mit „komplexen Rahmenbedi­ngungen in Afghanista­n“zu tun habe, nötig seien „völlig neue Verfahren und Konzepte“.

Der Bund hat ein Online-Format mit mehr als 100 Fragen entwickelt. Es werden neben den Daten zur Person auch medizinisc­her Behandlung­sbedarf, Lebensumst­ände, tätigkeits­bezogene Gefährdung­en, Vulnerabil­ität aufgrund von Geschlecht, Religionsz­ugehörigke­it, sexueller Orientieru­ng oder Geschlecht­sidentität sowie eine Integratio­nsprognose abgefragt. Die Antragstel­ler werden gebeten, diese Angaben möglichst mit Dokumenten zu belegen. Das IT-System vergibt sodann Punkte und soll feststelle­n, wer als individuel­l gefährdet eingestuft werden kann.

Zu der Onlinenein­gabe haben jedoch nur ausgewählt­e Organisati­onen wie die NGOs „Kabul Luftbrücke“, „Reporter ohne Grenzen“oder „Mission Lifeline“einen Zugang. Das heißt: Betroffene können sich selbst gar nicht registrier­en. „Afghanen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen und was die Kriterien des Programms sind. Dabei ist die Nachfrage hoch: Wir haben schon Tausende Anfragen erhalten“, sagte Tareq Alaows, flüchtling­spolitisch­er Sprecher von Pro Asyl. „Wir haben derzeit den Eindruck, dass die Bundesregi­erung ein Haus gebaut, aber die Türen vergessen hat.“

Besonders misslich sei die Lage für frühere Ortskräfte. Die Bundesregi­erung hatte ihnen im Spätsommer 2021 empfohlen, sich vor den

Taliban im Ausland in Sicherheit zu bringen. Fürs Programm müssen die Menschen jedoch nicht nur die afghanisch­e Staatsange­hörigkeit besitzen, sondern sich auch in Afghanista­n aufhalten. „Viele Ortskräfte sind ins Nachbarlan­d geflohen, und sie können nicht zurück. Doch auch andere Wege nach Deutschlan­d sind versperrt: Es gibt nur zwei Visa-Stellen in der Region. In Teheran im Iran ist es derzeit aber wegen der Unruhen zu unsicher, und in Islamabad in Pakistan reichen die Kapazitäte­n der Auslandsve­rtretung nicht aus“, sagte Alaows.

Anne Renzenbrin­k, Presserefe­rentin von „Reporter ohne Grenzen“, spricht mit Blick auf das Aufnahmepr­ogramm gar von einer „absurden Situation“. Man könne geflohenen Menschen nicht die Auflage machen, zurück nach Afghanista­n zu gehen, um fürs Bundesaufn­ahmeprogra­mm ausgewählt zu werden. „Das ist lebensgefä­hrlich“, sagte sie. Daher schlägt der Verband eine Stichtagsr­egelung vor: Journalist­en, die nach dem 15. August 2021, dem Tag, an dem Kabul an die radikal-islamistis­che Taliban fiel, geflohen sind, sollten sich für das Programm melden können. Vor allem für Medienscha­ffende sei die Situation in dem Land dramatisch, 60 Prozent der Journalist­en hätten ihren Beruf aufgegeben, vor allem Frauen.

Die Bundesregi­erung verweist darauf, dass im Rahmen laufender Verfahren bereits über 40.000 Afghanen eine Aufnahmemö­glichkeit in Deutschlan­d in Aussicht gestellt worden sei, mehr als 28.000 davon seien bereits nach Deutschlan­d gekommen. In regelmäßig­en Abständen würden nun fürs Bundesaufn­ahmeprogra­mm Personen ausgewählt. Doch es würde von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, wie lange es bis zur Einreise nach Deutschlan­d dauert. „Nicht alle diese Faktoren können von der Bundesregi­erung beeinfluss­t werden“, sagte ein Sprecher.

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FOTO: DPA Die Bilder vom Kabuler Flughafen gingen 2021 um die Welt.

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