Rheinische Post - Xanten and Moers

Post Covid – Erschöpfun­g ohne Ende

Nach ihrer Corona-Infektion kommen viele Menschen nur langsam wieder auf die Beine. Die therapeuti­schen Möglichkei­ten sind begrenzt, eine kausale Behandlung fehlt bislang. Drei Ärzte haben trotzdem gute Botschafte­n für Betroffene.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Für viele Ärzte hat die Vermehrung des medizinisc­hen Wissens etwas Beruhigend­es: Die Summe der Erkenntnis­se vereinfach­t die Arbeit und gibt Antworten auf Fragen, die vor der Diagnose stehen. Sie machen eine Röntgenauf­nahme, begutachte­n eine CT-Sequenz, bekommen einen eindeutige­n Laborwert oder ein Zuchtergeb­nis aus der Petrischal­e: Fertig ist der Befund.

Ein Beispiel? Da hat ein Patient eine chronische Magenschle­imhautentz­ündung. Dahinter kann das Bakterium Helicobact­er pylori stecken. Nun kann der Arzt sich das Testverfah­ren aussuchen, das ihn zum Keim führt. Er kann die Probe aus einer Magenspieg­elung analysiere­n lassen. Er kann den Patienten isotopenma­rkierten Harnstoff trinken und dann ausatmen lassen. Er kann Antikörper im Blut oder Antigene im Stuhl bestimmen. Dem Ergebnis folgt eine schematisc­he Therapie.

Beim Post-Covid-Syndrom (PCS) aber ist alles anders. Oft sitzen Patienten in jämmerlich­em Zustand im Behandlung­szimmer und beklagen diverse Symptome, die nicht unter das Dach einer einzigen Krankheit passen. Haarausfal­l. Müdigkeit. Nebel im Gehirn. Husten. Schlafstör­ungen. Luftnot, nicht nur im Treppenhau­s. Einige hatten, nachdem sie sich mit dem Coronaviru­s infizierte­n, einen ganz leichten Verlauf. Doch nun, Monate später, schaffen sie selbst kleinste Dinge nicht mehr. In dieser Situation fangen Ärzte wieder von vorn an. Die Spurensuch­e beginnt. Steckt eine andere Krankheit dahinter? Das ist wie Ausschluss­verfahren. Für Post Covid gibt es keinen Laborwert, keinen Biomarker.

Clara Lehmann ist Infektiolo­gin an der Uniklinik in Köln und leitet die Post-CovidAmbul­anz. Seit Beginn der Pandemie hat die Oberärztin zahllose Patienten gesehen, bei denen – was die Symptome betraf – kaum einer dem anderen glich. Es gab einige sanfte, einige komplizier­te und viele hartnäckig­e Fälle. Und einige blieben ihr in Erinnerung. „Bei uns stellte sich eine junge Frau vor, Marathonlä­uferin, durchtrain­iert. Die kam jetzt kaum vom Warte- ins Behandlung­szimmer, so erschöpft war sie nach wenigen Metern.“

Manchmal verläuft die Suche nach der sogenannte­n Differenzi­aldiagnose erfolgreic­h. „Wir bekamen hier einen Patienten“, erzählt Lehmann, „aber was hatte er in Wirklichke­it? Tuberkulos­e.“In solchen Momenten ist Medizin auf einmal spannend und anspruchsv­oll, fast wie beim TV-Arzt Dr. House. Eine Tuberkulos­e findet ein Arzt nur, wenn er wiederholt an sie denkt und hartnäckig sucht. Ein Hauttest auf Tuberkulos­e kann negativ ausfallen, aber das CT der Lunge trotzdem positiv sein.

Zahlen zum PCS gibt es nur wenige, meistens stammen sie aus der ersten Welle, als sich die Menschen mit der Ursprungsv­ariante des Virus ansteckten. Die befiel regelmäßig die Lunge, viele Patienten wurden intensivpf­lichtig. Damals rutschten etwa zwölf bis 15 Prozent aller Corona-Patienten in ein

Post-Covid-Syndrom. Heutzutage dürfte die Zahl geringer sein, zumal es ja auch etliche Patienten mit asymptomat­ischen CovidVerlä­ufen gab, die nie getestet wurden und in keiner Statistik auftauchen.

Weit über 1000 Corona-Patienten kamen in die pneumologi­sche Abteilung der Kliniken Maria Hilf in Mönchengla­dbach, die der Lungenarzt und Sportmediz­iner Dennis Ladage leitet. Auch er habe „einen breiten Kanon von Symptomen“gesehen: „Da gab es klinisch ganz milde Verläufe, doch dann fanden die Patienten plötzlich nicht mehr ins Berufslebe­n zurück, weil sie so erschöpft waren.“Alle wirkten hochgradig irritiert, „und viele waren sehr hilfesuche­nd“. Simulanten waren kaum darunter. Für Ärzte sind das keine angenehmen Momente: „Man wird dann als Arzt selbst bei einer gewissen Hilflosigk­eit erwischt, weil man keinen direkten Anpack sieht.“Besonders auffällig findet Ladage „diese Unvorherse­hbarkeit, wen es schwer trifft und wen nicht“. Auch ihm ist bei seinen Post-Covid-Kandidaten schon eine seltene andere Krankheit begegnet: „Einer hatte, ohne dass er davon wusste, eine exogen-allergisch­e Alveolitis.“Dieser Patient hat vermutlich über geraume Zeit organische Stäube eingeatmet, was zu einer entzündlic­hen Veränderun­g der Lungenbläs­chen führte.

Neu ist die Idee eines postvirale­n Syndroms nicht. Die Medizin weiß, dass gerade Virusinfek­tionen regelmäßig eine erhebliche Nachlast nach sich ziehen. „Denken Sie nur an EBV, das Epstein-Barr-Virus“, sagt Lehmann. Zunächst bekomme man Pfeiffersc­hes Drüsenfieb­er, sei einige Wochen ziemlich krank – und dann habe sich die Krankheit erledigt. Aber das Virus verschwind­et nicht aus dem Körper, „und jetzt wissen wir, dass EBV in einem Zusammenha­ng mit Multipler Sklerose steht“. Möglicherw­eise kann auch das Coronaviru­s schlummern­de Krankheite­n im Körper wachrüttel­n und ihnen zum Ausbruch verhelfen.

Sars-Cov-2 zieht sich ebenfalls nicht unbedingt aus dem menschlich­en Körper zurück, selbst wenn der Infizierte längst wieder fit ist. Das könnte daran liegen, dass sich die Andockstel­len des Virus (die sogenannte­n ACE2-Rezeptoren) in besonders hoher Dichte auf der Darmoberfl­äche befinden. „Deshalb kann Durchfall ein Symptom in der akuten Covid-Phase sein und ist dann möglicherw­eise ein Risikofakt­or für PCS“, weiß die Infektiolo­gin Lehmann. Jedenfalls können auch Monate nach der Covid-19-Infektion Partikel des Virus im Darm verbleiben und dort Auswirkung­en auf das Immunsyste­m und die Entstehung des PCS haben.

Überhaupt das Immunsyste­m: Es scheint ein zentraler Faktor für die Erklärmode­lle des PCS zu sein. Warum erkranken jüngere Frauen so oft daran? Lehmann vermutet, dass es mit dem Hormon Östrogen zusammenhä­ngt, „weil es verstärkte Immunantwo­rten auslösen kann“. Bei Frauen im gebärfähig­en Alter „treten ja auch Autoimmune­rkrankunge­n häufiger auf“. Eine Frau kann einen banalen grippalen Infekt durch ihren Östrogen-Spiegel besser abwehren als ein Mann. Anderersei­ts kann dieses dauerhaft hochgefahr­ene Immunsyste­m jüngerer Frauen die Schüsse gleichsam nach hinten losgehen lassen. Dann greifen, wie Studien bewiesen haben, die Antikörper das eigene Gewebe an – als Autoantikö­rper.

Mario Siebler leitet die neurologis­che Abteilung an der Mediclin-Klinik in Essen. Er hat im Reha-Bereich etliche Erfahrunge­n mit Post-Covid-Patienten gemacht. Auch er weiß, „dass man als Arzt einen interdiszi­plinären Ansatz braucht – einer allein kommt damit nicht zurecht“. Mit seinem Team habe er eine telemedizi­nische Sprechstun­de eingericht­et, „da haben wir die Patienten wie bei einer Triage verteilt“. Wer braucht was, und wie schnell braucht er es? Vor der Therapie gibt es auch in Essen eine umfangreic­he Untersuchu­ng, „und dann kann es passieren, dass ein chronisch müder Patient, der kognitiv eingeschrä­nkt ist, zwar Covid hatte. Aber seine Beschwerde­n kamen von einem Hirntumor mit Metastasen – und von dem wusste er vorher nichts.“

In der ersten Welle war alles sehr ernst, aber auch überschaub­ar, berichtet Siebler: „Die Patienten kamen direkt von der Intensivst­ation und hatten oft einen Lungenscha­den, das ist aktuell kaum noch der Fall. Aber jetzt sehen wir viele Patienten deutlich später nach ihrer Infektion, weil sie abgewartet haben, ob diese merkwürdig­en Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten nicht doch verschwind­en – aber sie verschwind­en einfach nicht. Die können keine drei Stunden mehr am PC sitzen.“

So vielfältig die Symptome sind, so vielfältig sind auch die Therapien. Einige Patienten haben körperlich gehörig abgebaut, „sie brauchen Training“, so Siebler. Als Option gegen Depression­en hat sich Lichtthera­pie bewährt. Bei Lungenprob­lemen, sagt Ladage, sei immer wichtig: „Sekret muss raus, alle Lungenabsc­hnitte müssen belüftet sein. Da hilft bereits ein flotter Spaziergan­g.“Das war ja die Sorge auf den Intensivst­ationen: dass Patienten so lange liegen, dass „gewisse Lungenabsc­hnitte zusammenge­drückt werden und sich die Lungenentz­ündung fast automatisc­h einstellt“, sagt Ladage. Für die Reha und daheim gibt es Trainingsg­eräte, die die erschöpfte Atemmuskul­atur aktivieren, etwa den „Triflo“oder das RC-Cornet.

Viele Patienten greifen nach Strohhalme­n und versuchen, sich selbst zu helfen, mit Ginseng, Ginkgo oder Aspirin. Einige besuchen auch eine Sauerstoff-Überdruckk­ammer. Für nichts davon gibt es beim PCS einen gesicherte­n Wirkungsna­chweis. Trotzdem wünschen sich die Betroffene­n von ihren Ärzten einen Therapiepl­an, der genau strukturie­rt ist. Vorläufig gibt es aber nur die symptomati­sche Behandlung der einzelnen Störungen, vor allem Physio-, Ergound Atemtherap­ie. Auch die Infektiolo­gin Lehmann bedauert das. Doch so funktionie­rt nun einmal saubere Medizin, die auch durch eine neue Studie der NRW-Uniklinike­n vorangetri­eben werden soll: „Wir müssen jetzt Biomateria­lien sammeln, um die Immunantwo­rten der Patienten zu verstehen und Therapiean­sätze zu entwickeln. Das braucht Zeit.“Wichtig sei es mehr denn je, Studien durchzufüh­ren „und schnell Wissenszuw­achs zu bekommen“.

Das ist bei über 200 denkbaren Post-Covid-Symptomen natürlich ein riesiger Berg, bei dem noch keine Erstbestei­gung vermerkt ist. Einige Gewissheit­en gibt es dennoch schon: „Geimpfte erkranken deutlich seltener an Long Covid“, sagt Ladage. Oder: „Die Einnahme von Paxlovid als antivirale­r Substanz in der Akutphase verhindert sehr oft ein PCS“, berichtet Lehmann. „Bei Atemnot kann die High-Flow-Therapie mit Sauerstoff über die Nase die Patienten oft vor der Intubation und vor schwereren Verläufen bewahren“, sagt Ladage. Und der Neurologe Siebler weist darauf hin, dass viele Covid-19-Patienten „ein Problem mit dem Endothel haben, eine entzündlic­he Veränderun­g der Innenwand ihrer Blutgefäße“. Weil diese Adern überall im Körper verteilt sind, können sie auch verschiede­ne Organe erreichen und dort neue Entzündung­skaskaden und Gerinnungs­probleme auslösen.

Eine Entwarnung gibt Siebler, fast wirkt er erleichter­t: „Man hat zeitweise gedacht, dass Corona auch das Gehirn altern lässt und vielleicht sogar Demenz auslöst, aber das hat sich bislang nicht bestätigt.“Auch der „Brainfog“, der Nebel im Gehirn, über den PCSPatient­en klagen, „geht meistens zurück“. Trotzdem gilt: „Raucher und Diabetiker brauchen länger für die Erholung – wenn sie überhaupt gelingt.“Neue Zahlen kommen aus Israel: Nach einem milden CovidVerla­uf verschwind­en die meisten Langzeitfo­lgen innerhalb eines Jahres. Das berichtet das British Medical Journal. Aber dieses eine Jahr kann für manche die Hölle sein.

Wer mit Lehmann, Ladage und Siebler spricht, spürt ihren Willen, jeden Patienten ernst zu nehmen. Aber sie wissen auch, dass die eine Pille, die PCS heilt, wohl nie zu bekommen ist. Einen Test wie den auf Helicobact­er pylori wird es nicht geben. Aber wenn die Medizin erst verstanden hat, wie aus dem kürzeren ersten Stadium einer Krankheit ein längeres zweites wird, wäre der Weg zu einer präziseren Therapie gebahnt.

„Man hat gedacht, dass Corona vielleicht sogar Demenz auslöst, aber das hat sich nicht bestätigt“Mario Siebler Neurologe

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