Rheinische Post - Xanten and Moers
Post Covid – Erschöpfung ohne Ende
Nach ihrer Corona-Infektion kommen viele Menschen nur langsam wieder auf die Beine. Die therapeutischen Möglichkeiten sind begrenzt, eine kausale Behandlung fehlt bislang. Drei Ärzte haben trotzdem gute Botschaften für Betroffene.
Für viele Ärzte hat die Vermehrung des medizinischen Wissens etwas Beruhigendes: Die Summe der Erkenntnisse vereinfacht die Arbeit und gibt Antworten auf Fragen, die vor der Diagnose stehen. Sie machen eine Röntgenaufnahme, begutachten eine CT-Sequenz, bekommen einen eindeutigen Laborwert oder ein Zuchtergebnis aus der Petrischale: Fertig ist der Befund.
Ein Beispiel? Da hat ein Patient eine chronische Magenschleimhautentzündung. Dahinter kann das Bakterium Helicobacter pylori stecken. Nun kann der Arzt sich das Testverfahren aussuchen, das ihn zum Keim führt. Er kann die Probe aus einer Magenspiegelung analysieren lassen. Er kann den Patienten isotopenmarkierten Harnstoff trinken und dann ausatmen lassen. Er kann Antikörper im Blut oder Antigene im Stuhl bestimmen. Dem Ergebnis folgt eine schematische Therapie.
Beim Post-Covid-Syndrom (PCS) aber ist alles anders. Oft sitzen Patienten in jämmerlichem Zustand im Behandlungszimmer und beklagen diverse Symptome, die nicht unter das Dach einer einzigen Krankheit passen. Haarausfall. Müdigkeit. Nebel im Gehirn. Husten. Schlafstörungen. Luftnot, nicht nur im Treppenhaus. Einige hatten, nachdem sie sich mit dem Coronavirus infizierten, einen ganz leichten Verlauf. Doch nun, Monate später, schaffen sie selbst kleinste Dinge nicht mehr. In dieser Situation fangen Ärzte wieder von vorn an. Die Spurensuche beginnt. Steckt eine andere Krankheit dahinter? Das ist wie Ausschlussverfahren. Für Post Covid gibt es keinen Laborwert, keinen Biomarker.
Clara Lehmann ist Infektiologin an der Uniklinik in Köln und leitet die Post-CovidAmbulanz. Seit Beginn der Pandemie hat die Oberärztin zahllose Patienten gesehen, bei denen – was die Symptome betraf – kaum einer dem anderen glich. Es gab einige sanfte, einige komplizierte und viele hartnäckige Fälle. Und einige blieben ihr in Erinnerung. „Bei uns stellte sich eine junge Frau vor, Marathonläuferin, durchtrainiert. Die kam jetzt kaum vom Warte- ins Behandlungszimmer, so erschöpft war sie nach wenigen Metern.“
Manchmal verläuft die Suche nach der sogenannten Differenzialdiagnose erfolgreich. „Wir bekamen hier einen Patienten“, erzählt Lehmann, „aber was hatte er in Wirklichkeit? Tuberkulose.“In solchen Momenten ist Medizin auf einmal spannend und anspruchsvoll, fast wie beim TV-Arzt Dr. House. Eine Tuberkulose findet ein Arzt nur, wenn er wiederholt an sie denkt und hartnäckig sucht. Ein Hauttest auf Tuberkulose kann negativ ausfallen, aber das CT der Lunge trotzdem positiv sein.
Zahlen zum PCS gibt es nur wenige, meistens stammen sie aus der ersten Welle, als sich die Menschen mit der Ursprungsvariante des Virus ansteckten. Die befiel regelmäßig die Lunge, viele Patienten wurden intensivpflichtig. Damals rutschten etwa zwölf bis 15 Prozent aller Corona-Patienten in ein
Post-Covid-Syndrom. Heutzutage dürfte die Zahl geringer sein, zumal es ja auch etliche Patienten mit asymptomatischen CovidVerläufen gab, die nie getestet wurden und in keiner Statistik auftauchen.
Weit über 1000 Corona-Patienten kamen in die pneumologische Abteilung der Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach, die der Lungenarzt und Sportmediziner Dennis Ladage leitet. Auch er habe „einen breiten Kanon von Symptomen“gesehen: „Da gab es klinisch ganz milde Verläufe, doch dann fanden die Patienten plötzlich nicht mehr ins Berufsleben zurück, weil sie so erschöpft waren.“Alle wirkten hochgradig irritiert, „und viele waren sehr hilfesuchend“. Simulanten waren kaum darunter. Für Ärzte sind das keine angenehmen Momente: „Man wird dann als Arzt selbst bei einer gewissen Hilflosigkeit erwischt, weil man keinen direkten Anpack sieht.“Besonders auffällig findet Ladage „diese Unvorhersehbarkeit, wen es schwer trifft und wen nicht“. Auch ihm ist bei seinen Post-Covid-Kandidaten schon eine seltene andere Krankheit begegnet: „Einer hatte, ohne dass er davon wusste, eine exogen-allergische Alveolitis.“Dieser Patient hat vermutlich über geraume Zeit organische Stäube eingeatmet, was zu einer entzündlichen Veränderung der Lungenbläschen führte.
Neu ist die Idee eines postviralen Syndroms nicht. Die Medizin weiß, dass gerade Virusinfektionen regelmäßig eine erhebliche Nachlast nach sich ziehen. „Denken Sie nur an EBV, das Epstein-Barr-Virus“, sagt Lehmann. Zunächst bekomme man Pfeiffersches Drüsenfieber, sei einige Wochen ziemlich krank – und dann habe sich die Krankheit erledigt. Aber das Virus verschwindet nicht aus dem Körper, „und jetzt wissen wir, dass EBV in einem Zusammenhang mit Multipler Sklerose steht“. Möglicherweise kann auch das Coronavirus schlummernde Krankheiten im Körper wachrütteln und ihnen zum Ausbruch verhelfen.
Sars-Cov-2 zieht sich ebenfalls nicht unbedingt aus dem menschlichen Körper zurück, selbst wenn der Infizierte längst wieder fit ist. Das könnte daran liegen, dass sich die Andockstellen des Virus (die sogenannten ACE2-Rezeptoren) in besonders hoher Dichte auf der Darmoberfläche befinden. „Deshalb kann Durchfall ein Symptom in der akuten Covid-Phase sein und ist dann möglicherweise ein Risikofaktor für PCS“, weiß die Infektiologin Lehmann. Jedenfalls können auch Monate nach der Covid-19-Infektion Partikel des Virus im Darm verbleiben und dort Auswirkungen auf das Immunsystem und die Entstehung des PCS haben.
Überhaupt das Immunsystem: Es scheint ein zentraler Faktor für die Erklärmodelle des PCS zu sein. Warum erkranken jüngere Frauen so oft daran? Lehmann vermutet, dass es mit dem Hormon Östrogen zusammenhängt, „weil es verstärkte Immunantworten auslösen kann“. Bei Frauen im gebärfähigen Alter „treten ja auch Autoimmunerkrankungen häufiger auf“. Eine Frau kann einen banalen grippalen Infekt durch ihren Östrogen-Spiegel besser abwehren als ein Mann. Andererseits kann dieses dauerhaft hochgefahrene Immunsystem jüngerer Frauen die Schüsse gleichsam nach hinten losgehen lassen. Dann greifen, wie Studien bewiesen haben, die Antikörper das eigene Gewebe an – als Autoantikörper.
Mario Siebler leitet die neurologische Abteilung an der Mediclin-Klinik in Essen. Er hat im Reha-Bereich etliche Erfahrungen mit Post-Covid-Patienten gemacht. Auch er weiß, „dass man als Arzt einen interdisziplinären Ansatz braucht – einer allein kommt damit nicht zurecht“. Mit seinem Team habe er eine telemedizinische Sprechstunde eingerichtet, „da haben wir die Patienten wie bei einer Triage verteilt“. Wer braucht was, und wie schnell braucht er es? Vor der Therapie gibt es auch in Essen eine umfangreiche Untersuchung, „und dann kann es passieren, dass ein chronisch müder Patient, der kognitiv eingeschränkt ist, zwar Covid hatte. Aber seine Beschwerden kamen von einem Hirntumor mit Metastasen – und von dem wusste er vorher nichts.“
In der ersten Welle war alles sehr ernst, aber auch überschaubar, berichtet Siebler: „Die Patienten kamen direkt von der Intensivstation und hatten oft einen Lungenschaden, das ist aktuell kaum noch der Fall. Aber jetzt sehen wir viele Patienten deutlich später nach ihrer Infektion, weil sie abgewartet haben, ob diese merkwürdigen Konzentrationsschwierigkeiten nicht doch verschwinden – aber sie verschwinden einfach nicht. Die können keine drei Stunden mehr am PC sitzen.“
So vielfältig die Symptome sind, so vielfältig sind auch die Therapien. Einige Patienten haben körperlich gehörig abgebaut, „sie brauchen Training“, so Siebler. Als Option gegen Depressionen hat sich Lichttherapie bewährt. Bei Lungenproblemen, sagt Ladage, sei immer wichtig: „Sekret muss raus, alle Lungenabschnitte müssen belüftet sein. Da hilft bereits ein flotter Spaziergang.“Das war ja die Sorge auf den Intensivstationen: dass Patienten so lange liegen, dass „gewisse Lungenabschnitte zusammengedrückt werden und sich die Lungenentzündung fast automatisch einstellt“, sagt Ladage. Für die Reha und daheim gibt es Trainingsgeräte, die die erschöpfte Atemmuskulatur aktivieren, etwa den „Triflo“oder das RC-Cornet.
Viele Patienten greifen nach Strohhalmen und versuchen, sich selbst zu helfen, mit Ginseng, Ginkgo oder Aspirin. Einige besuchen auch eine Sauerstoff-Überdruckkammer. Für nichts davon gibt es beim PCS einen gesicherten Wirkungsnachweis. Trotzdem wünschen sich die Betroffenen von ihren Ärzten einen Therapieplan, der genau strukturiert ist. Vorläufig gibt es aber nur die symptomatische Behandlung der einzelnen Störungen, vor allem Physio-, Ergound Atemtherapie. Auch die Infektiologin Lehmann bedauert das. Doch so funktioniert nun einmal saubere Medizin, die auch durch eine neue Studie der NRW-Unikliniken vorangetrieben werden soll: „Wir müssen jetzt Biomaterialien sammeln, um die Immunantworten der Patienten zu verstehen und Therapieansätze zu entwickeln. Das braucht Zeit.“Wichtig sei es mehr denn je, Studien durchzuführen „und schnell Wissenszuwachs zu bekommen“.
Das ist bei über 200 denkbaren Post-Covid-Symptomen natürlich ein riesiger Berg, bei dem noch keine Erstbesteigung vermerkt ist. Einige Gewissheiten gibt es dennoch schon: „Geimpfte erkranken deutlich seltener an Long Covid“, sagt Ladage. Oder: „Die Einnahme von Paxlovid als antiviraler Substanz in der Akutphase verhindert sehr oft ein PCS“, berichtet Lehmann. „Bei Atemnot kann die High-Flow-Therapie mit Sauerstoff über die Nase die Patienten oft vor der Intubation und vor schwereren Verläufen bewahren“, sagt Ladage. Und der Neurologe Siebler weist darauf hin, dass viele Covid-19-Patienten „ein Problem mit dem Endothel haben, eine entzündliche Veränderung der Innenwand ihrer Blutgefäße“. Weil diese Adern überall im Körper verteilt sind, können sie auch verschiedene Organe erreichen und dort neue Entzündungskaskaden und Gerinnungsprobleme auslösen.
Eine Entwarnung gibt Siebler, fast wirkt er erleichtert: „Man hat zeitweise gedacht, dass Corona auch das Gehirn altern lässt und vielleicht sogar Demenz auslöst, aber das hat sich bislang nicht bestätigt.“Auch der „Brainfog“, der Nebel im Gehirn, über den PCSPatienten klagen, „geht meistens zurück“. Trotzdem gilt: „Raucher und Diabetiker brauchen länger für die Erholung – wenn sie überhaupt gelingt.“Neue Zahlen kommen aus Israel: Nach einem milden CovidVerlauf verschwinden die meisten Langzeitfolgen innerhalb eines Jahres. Das berichtet das British Medical Journal. Aber dieses eine Jahr kann für manche die Hölle sein.
Wer mit Lehmann, Ladage und Siebler spricht, spürt ihren Willen, jeden Patienten ernst zu nehmen. Aber sie wissen auch, dass die eine Pille, die PCS heilt, wohl nie zu bekommen ist. Einen Test wie den auf Helicobacter pylori wird es nicht geben. Aber wenn die Medizin erst verstanden hat, wie aus dem kürzeren ersten Stadium einer Krankheit ein längeres zweites wird, wäre der Weg zu einer präziseren Therapie gebahnt.
„Man hat gedacht, dass Corona vielleicht sogar Demenz auslöst, aber das hat sich nicht bestätigt“Mario Siebler Neurologe