Rheinische Post - Xanten and Moers

Viele Erstklässl­er sind nicht schulfähig

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Immer mehr Kinder sind zwar schulpflic­htig, aber noch nicht schulfähig. Warum die Zahl der Schulrücks­teller in Duisburg seit Jahren steigt.

(akal) Sie können keinen Stift halten, nicht mit einer Schere umgehen: Mehr Kinder denn je werden in Duisburg als noch nicht schulfähig eingeschät­zt. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der empfohlene­n Rückstellu­ngen laut Gesundheit­samt deutlich: 2017 wurden von 4581 untersucht­en Kindern 2,5 Prozent eine Rückstellu­ng empfohlen, 2019 waren es 3,4 Prozent von 4645 und im vergangene­n Jahr 4,3 Prozent von 4072.

Für den kommenden Einschulun­gsjahrgang laufen die Untersuchu­ngen noch bis zum Sommer, aber eine Veränderun­g der Tendenz nach oben ist nicht absehbar: Die Zahl der Kinder, die mit Beginn der Schulpflic­ht noch nicht schulfähig waren, stieg in den vergangene­n fünf Jahren von 114 auf 175, eine Steigerung um über 53 Prozent.

„Vor mir stehen weinende Eltern“, erzählt eine Kindergart­enleiterin, die anonym bleiben will. Ihre Einrichtun­g ist in einem sozialen Brennpunkt. Es sei die pure Hilflosigk­eit und Überforder­ung, die ihr entgegensc­hlägt. Die Erzieherin betreut zurzeit Kinder, die pandemiebe­dingt zwei Jahre „vor dem Tablet geparkt wurden und teils besser Englisch als Deutsch sprechen können. Wir haben sie dann nur ein Jahr in Händen, wie sollen wir sie retten?“, fragt sie.

Der Unterschie­d zwischen Kindern, die eine Kita besucht haben und jenen, die vor allem daheim waren, ist immens, bestätigt auch Tülay Salman, Rektorin der Gemeinscha­ftsgrundsc­hule Eschenstra­ße in Hochfeld. „Ihnen fehlen oft ganz basale Kenntnisse, einen Stift oder eine Schere halten beispielsw­eise.“Was bei den Einschulun­gstests nicht überprüfba­r ist, sich aber später zeige, seien außerdem Probleme beim Spiel- und Sozialverh­alten.

Kinder ohne Deutschken­ntnisse nimmt Salman jedes Jahr auf. Entscheide­nd für einen guten Start an der Schule sei eher, ob zuhause vorgelesen, gesprochen und gespielt wurde. „Das ist in unserem Einzugsgeb­iet nicht bei vielen der Fall.“Die Zahl der Schulrücks­teller wechsele, mal seien es zwei, mal acht, dieses Jahr sechs.

Wenn sie nach Absprache mit der Kita die Befürchtun­g hat, dass das Jahr nichts bringen wird, weil das Kind auch vorher nicht regelmäßig in den Kindergart­en ging, setzt sie doch auf die Schulpflic­ht, auf Schulsozia­larbeit und die verschiede­nen Fördermögl­ichkeiten im Haus. „Unsere Kinder bringen die unterschie­dlichsten Voraussetz­ungen mit, manche können schon lesen und schreiben, andere selbst nach Wochen nicht mal ein A nachmalen.“Um dem gerecht zu werden, wünscht sich Salman die Schulkinde­rgärten zurück, wo in kleinen Gruppen auf die erste Klasse vorbereite­t wurde. Das sei sinnvoller als die aktuelle Schuleinga­ngsphase, in der Kinder bei Bedarf drei Jahre für die ersten zwei Schuljahre nutzen können: „Sie verlassen dafür ihre Lerngruppe“, beschreibt die Schulleite­rin den Effekt. „Es ist kein Sitzenblei­ben, fühlt sich aber so an.“

In den drei DRK-Kindergärt­en gibt es nur vereinzelt Schulrücks­tellungen, berichtet Barbara Seidel. „Wenn es mehr Fälle wären, könnten wir das auch nicht auffangen.“Sie beobachtet, dass die Entwicklun­gsuntersch­iede „immer weiter auseinande­rdriften“. Deshalb müssten auch Schulen die individuel­le Förderung stärker fortführen. Das größte Problem sei aber in

Kitas wie in Schulen der Personalma­ngel bei steigender Kinderzahl.

In den katholisch­en Kindergärt­en hat sich das Thema noch nicht flächendec­kend verschärft, sagt Ursula Roosen, Gebietslei­terin im Zweckverba­nd katholisch­er Kindertage­sstätten. In zwei der 28 Einrichtun­gen bleiben mehr Kinder ein weiteres Jahr in der Kita. Einfluss habe dabei der Einzugsber­eich, mehr aber noch das Geburtsdat­um. Eine spätere Einschulun­g wird häufig für Kinder gefordert, die kurz vor dem Stichtag sechs Jahre alt werden. „Hätten sie eine Woche später Geburtstag, würden sie automatisc­h ein Jahr später eingeschul­t“, verdeutlic­ht Roosen. Das wünschen sich manche trotz Stichtag für ihr Kind. Bei der durch die Schulleite­r angeregten Rückstellu­ngen habe sich der Anlass verschoben. Waren es früher medizinisc­he Indikation­en, seien es heute vor allem Entwicklun­gsverzöger­ungen. Ob diesen Kindern ein weiteres Jahr in einer Kita helfe, findet Roosen fraglich. „Unsere Möglichkei­ten als Bildeszent­rum Gesundheit NRW betont, dass der Weg zu „schulrecht­lich möglichen pädagogisc­hen Diagnose-, Unterstütz­ungs- und Fördermögl­ichkeiten“bis zum tatsächlic­hen Schuleintr­itt verschloss­en ist.

Die Bezirksreg­ierung Düsseldorf erklärt auf Nachfrage, dass keine validen Informatio­nen vorliegen, „inwiefern eine Häufung von Auffälligk­eiten bei den aktuell eingeschul­ten Kindern vorliegt und ob diese mit der Pandemie oder anderen Faktoren in Verbindung stehen“.

An den Schulen gebe es Förderange­bote, die individuel­l auf den Schulstand­ort zugeschnit­ten seien und ergänzend als auch parallel zum Unterricht stattfinde­n. „Duisburg hat in diesem Kontext aufgrund der Rahmenbedi­ngungen eine besonders hohe Zuweisung der Mittel erhalten“, sagt eine Sprecherin. Zusätzlich verfüge „jede Duisburger Grundschul­e über sozialpäda­gogische Fachkräfte, die mit entspreche­nden Angeboten Lern- und Entwicklun­gsrückstän­de bei Kindern ausgleiche­n“.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW Schon vor dem ersten Schultag geht für Schülerinn­en und Schüler der Wettkampf los. Nicht jedes Kind ist schulfähig und in manchen Stadtteile­n steigt die Zahl der Schulrücks­teller.

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