Rheinische Post - Xanten and Moers
Veto-Drohung hilft im Wahlkampf
Der Nato-Streit kommt für Recep Tayyip Erdogan zur rechten Zeit. Damit lenkt der türkische Präsident die Aufmerksamkeit ab von der desolaten Wirtschaftslage im Land.
ISTANBUL Devlet Bahceli ist in Ankara der Mann fürs Grobe. Als rechtsnationaler Bündnispartner von Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt Bahceli häufig Dinge, die selbst dem für seine scharfe Rhetorik bekannten türkischen Staatschef nicht über die Lippen kommen würden. So war es auch am Dienstag, als Bahceli die jüngste Wendung im Streit um das türkische Veto gegen den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden kommentierte: „Wir sind ohne die Nato zur Welt gekommen und werden ohne die Nato auch nicht sterben“, sagte Bahceli. „Wir brauchen die Nato nicht.“
Erdogan und Bahceli wollen die türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von Juni auf Mai vorziehen und sind deshalb bereits im Wahlkampfmodus. Ihr Ziel ist es, rechtsgerichtete Wähler zurückzugewinnen, die sich wegen der schlechten Wirtschaftslage vom Regierungsbündnis abgewandt haben. Der Nato-Streit und die anti-türkischen Demonstrationen in Stockholm kommen ihnen deshalb recht. Der Präsident beklagt schon lange, dass Finnland und Schweden antitürkischen Aktivisten Schutz gewähren und anti-türkische Aktionen tolerieren.
Damit stoppt der türkische Wahlkampf die Nato-Erweiterung. Vor den türkischen Wahlen, die voraussichtlich am 14. Mai stattfinden werden, dürfte das Parlament in Ankara die Nato-Beitrittsgesuche der beiden nordischen Länder nicht mehr ratifizieren, zumal auch die Opposition in Ankara gegen Schweden auf die Barrikaden geht: Die KoranVerbrennung sei gegen Milliarden von Muslimen gerichtet gewesen, schrieb der Oppositionsführer und potenzielle Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu auf Twitter.
Ob Erdogan sich auf einen finnischen Alleingang einlassen würde, ist unsicher, denn er profitiert innenpolitisch von seiner Haltung gegen die beiden Kandidaten-Länder. Seine Veto-Drohung gegen Finnland und Schweden half ihm schon im vergangenen Jahr aus einem Umfrage-Tief. Erdogan wolle bis zu den Wahlen vor allem die türkisch-schwedischen Spannungen weiter anfachen, schrieb Timur Kuran, Türkei-Experte an der DukeUniversität in den USA, auf Twitter. Wenn sich die Aufmerksamkeit der türkischen Wähler auf die desolate Wirtschaftslage im Land konzentriere, könne Erdogan im Mai nicht gewinnen.
Der Präsident will auch deshalb im
Mai wählen lassen, weil seine derzeitige Politik die Staatskasse leert. Er hat den Mindestlohn und die Beamtengehälter wegen der galoppierenden Inflation kräftig angehoben und den Eintritt in die Frührente erleichtert. Gleichzeitig gibt die Zentralbank auf Weisung des Präsidenten Milliardensummen aus, um den Wertverlust der Lira zumindest ein wenig abzubremsen. Ewig könne dieses System nicht funktionieren, sagte der unabhängige Wirtschaftsexperte Emre Deliveli unserer Redaktion. „Aber Erdogan will bis zu den Wahlen damit durchkommen.“
Wenn früher gewählt wird als geplant, erhöht das auch den Druck auf die Opposition. Ein Bündnis aus sechs Parteien will Erdogan stürzen. Doch bisher hat sich die Allianz weder auf ein Regierungsprogramm noch auf einen Präsidentschaftskandidaten geeinigt. Laut den jüngsten Umfragen legt das Regierungsbündnis aus AKP und der rechtsnationalen MHP wieder zu; fast jeder zweite Wähler ist mit Erdogans Amtsführung als Präsident einverstanden.