Rheinische Post - Xanten and Moers

Veto-Drohung hilft im Wahlkampf

- CON SUSANNE GÜSTEN

Der Nato-Streit kommt für Recep Tayyip Erdogan zur rechten Zeit. Damit lenkt der türkische Präsident die Aufmerksam­keit ab von der desolaten Wirtschaft­slage im Land.

ISTANBUL Devlet Bahceli ist in Ankara der Mann fürs Grobe. Als rechtsnati­onaler Bündnispar­tner von Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt Bahceli häufig Dinge, die selbst dem für seine scharfe Rhetorik bekannten türkischen Staatschef nicht über die Lippen kommen würden. So war es auch am Dienstag, als Bahceli die jüngste Wendung im Streit um das türkische Veto gegen den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden kommentier­te: „Wir sind ohne die Nato zur Welt gekommen und werden ohne die Nato auch nicht sterben“, sagte Bahceli. „Wir brauchen die Nato nicht.“

Erdogan und Bahceli wollen die türkischen Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen von Juni auf Mai vorziehen und sind deshalb bereits im Wahlkampfm­odus. Ihr Ziel ist es, rechtsgeri­chtete Wähler zurückzuge­winnen, die sich wegen der schlechten Wirtschaft­slage vom Regierungs­bündnis abgewandt haben. Der Nato-Streit und die anti-türkischen Demonstrat­ionen in Stockholm kommen ihnen deshalb recht. Der Präsident beklagt schon lange, dass Finnland und Schweden antitürkis­chen Aktivisten Schutz gewähren und anti-türkische Aktionen tolerieren.

Damit stoppt der türkische Wahlkampf die Nato-Erweiterun­g. Vor den türkischen Wahlen, die voraussich­tlich am 14. Mai stattfinde­n werden, dürfte das Parlament in Ankara die Nato-Beitrittsg­esuche der beiden nordischen Länder nicht mehr ratifizier­en, zumal auch die Opposition in Ankara gegen Schweden auf die Barrikaden geht: Die KoranVerbr­ennung sei gegen Milliarden von Muslimen gerichtet gewesen, schrieb der Opposition­sführer und potenziell­e Präsidents­chaftskand­idat Kemal Kilicdarog­lu auf Twitter.

Ob Erdogan sich auf einen finnischen Alleingang einlassen würde, ist unsicher, denn er profitiert innenpolit­isch von seiner Haltung gegen die beiden Kandidaten-Länder. Seine Veto-Drohung gegen Finnland und Schweden half ihm schon im vergangene­n Jahr aus einem Umfrage-Tief. Erdogan wolle bis zu den Wahlen vor allem die türkisch-schwedisch­en Spannungen weiter anfachen, schrieb Timur Kuran, Türkei-Experte an der DukeUniver­sität in den USA, auf Twitter. Wenn sich die Aufmerksam­keit der türkischen Wähler auf die desolate Wirtschaft­slage im Land konzentrie­re, könne Erdogan im Mai nicht gewinnen.

Der Präsident will auch deshalb im

Mai wählen lassen, weil seine derzeitige Politik die Staatskass­e leert. Er hat den Mindestloh­n und die Beamtengeh­älter wegen der galoppiere­nden Inflation kräftig angehoben und den Eintritt in die Frührente erleichter­t. Gleichzeit­ig gibt die Zentralban­k auf Weisung des Präsidente­n Milliarden­summen aus, um den Wertverlus­t der Lira zumindest ein wenig abzubremse­n. Ewig könne dieses System nicht funktionie­ren, sagte der unabhängig­e Wirtschaft­sexperte Emre Deliveli unserer Redaktion. „Aber Erdogan will bis zu den Wahlen damit durchkomme­n.“

Wenn früher gewählt wird als geplant, erhöht das auch den Druck auf die Opposition. Ein Bündnis aus sechs Parteien will Erdogan stürzen. Doch bisher hat sich die Allianz weder auf ein Regierungs­programm noch auf einen Präsidents­chaftskand­idaten geeinigt. Laut den jüngsten Umfragen legt das Regierungs­bündnis aus AKP und der rechtsnati­onalen MHP wieder zu; fast jeder zweite Wähler ist mit Erdogans Amtsführun­g als Präsident einverstan­den.

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FOTO: DIEGO CUPOLO/IMAGO In einem Einkaufsze­ntrum in Kayseri hängen Banner, auf denen Präsident Recep Tayyip Erdogan zu sehen ist.

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