Rheinische Post - Xanten and Moers
Noch mal Glück gehabt
Die Ampelkoalition mag bei der Bewältigung der Energiekrise nicht immer eine glückliche Hand gehabt haben. Derzeit aber besteht Grund zum Optimismus: Die deutsche Wirtschaft präsentiert sich überraschend robust.
Es ist schon etwas Besonderes, wenn der einflussreiche Chef der Bundesnetzagentur mal über etwas anderes als die Notlage an den Strom- und Gasmärkten redet. Vor einigen Tagen führte Klaus Müller beredt Klage über den mangelnden Netzausbau der Mobilfunkkonzerne. Fast business as usual, nachdem der Volkswirt Müller sonst fast nur über mögliche Szenarien einer Gasmangellage oder die Füllstände der Gasspeicher berichtet hatte.
Tatsächlich herrscht in dieser Hinsicht derzeit eher Ruhe. Der Speicherstand lag am Freitag bei gut 82,9 Prozent. Die deutsche Versorgungslage gilt als stabil – genauso wie die der Nachbarländer und auch die Bereitstellung von Gas über die Weltmärkte. Um gut ein Drittel liegt der Verbrauch von Gas in Deutschland derzeit unter dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021. Und die Chancen stehen gut, dass im April, also am Ende der Heizperiode, die Speicher immer noch zu 60 bis 70 Prozent gefüllt sind. „In diesem Winter geht nichts mehr schief“, ist Müller überzeugt.
Die Situation hat sich entspannt. Um fast zwei Prozent ist im Kriegsjahr 2022 die deutsche Wirtschaft gewachsen – eine Zahl, die deutlich über dem Mittelwert der vergangenen Jahre liegt. Tatsächlich wurden in Deutschland noch nie so viele Güter und Dienstleistungen produziert wie im vergangenen Jahr. Das Vor-Corona-Niveau ist längst wieder erreicht. Zwar erwarten viele Experten im ersten Quartal 2023 eine leichte Eintrübung. Aber: „Ein kleines Plus ist im ganzen Jahr durchaus möglich, selbst im Winterquartal“, sagt Torsten Schmidt, der beim RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen für die Prognosen zuständig ist. Auch die Bundesregierung hat ihre Schätzung für 2023 leicht angehoben. Statt Rezession erwartet sie nun Stagnation. 2024 soll die Wirtschaft mit 1,8 Prozent kräftig wachsen. Die Deutsche Bank geht sogar schon 2023 von einem geringen Wachstum von 0,5 Prozent aus.
Auch sonst gibt es derzeit mehr Licht als Schatten. Der Börsenindex Dax der 40 wichtigsten Werte ist seit Ende September um mehr als 3000 Punkte gestiegen und liegt beharrlich über 15.000. Positiv sind auch der Konjunkturindex des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, der Ifo-Geschäftsklimaindex sowie das Dienstleistervertrauen und das Konsumklima. „Die Verbraucher haben sich sehr konjunkturstabilisierend verhalten“, lobt der Essener Wirtschaftsforscher Schmidt, der auch bei den anderen Krisen eher optimistisch ist: „Die Entspannung zeigt sich auch bei den Frachtraten und Lieferketten. Die Auftragsbestände können derzeit zügig abgearbeitet werden.“
Viele Unternehmen haben es überraschend gut geschafft, mit den Widrigkeiten an den Energiemärkten fertig zu werden. Zwar rechnen energieintensive Branchen wie die Papier- und Metallhersteller sowie die chemische Industrie mit Produktionseinbußen, die Bauindustrie sogar mit einem richtigen Einbruch. Deshalb werden sie auch einen Teil der Produktion ins Ausland verlagern, wo die Energiepreise günstiger sind. Das wichtige Ammoniak produziert der Chemieriese BASF nur noch in Übersee. Aber viele vor allem mittlere und kleine Unternehmen berappeln sich derzeit. „Die deutsche Wirtschaft ist sehr flexibel“, sagt Schmidt. Und der Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik vergibt sogar das Prädikat „Weltklasse“für die deutschen Hersteller.
Dazu passt, dass der Arbeitsmarkt äußerst robust bleibt. Mit 45,5 Millionen Erwerbstätigen ist die Beschäftigung in Deutschland auf einem neuen
Rekordstand. In der Industrie wuchsen die Belegschaften 2022 um 1,2 Prozent. Mit 5,5 Millionen Beschäftigten gibt das Verarbeitende Gewerbe, die Herzkammer der deutschen Wirtschaft, heute mehr Menschen Arbeit als im Jahr 1991.
Der konsequente Kurs der Europäischen Zentralbank (EZB), der gerade vom Präsidenten der Bundesbank, Joachim Nagel, befeuert wird, könnte auch die Inflation besser unter Kontrolle bringen. So hat sich der Zuwachs der Erzeugerpreise, ein vorauslaufender Indikator für Preissteigerungen, halbiert. Mit 25 Prozent im Dezember 2022 ist er noch immer zu hoch, aber im August lag er bei mehr als 45 Prozent. Für die Inflationsrate erwarten die Konjunkturexperten der Deutschen Bank noch 5,8 Prozent für die Eurozone, im kommenden Jahr wird sie unter der EZB-Zielmarke von zwei Prozent liegen. Nach Berechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums wird die Preissteigerungsrate in Deutschland ebenfalls bei rund sechs Prozent liegen, bevor sie auch hier 2024 unter drei Prozent sinkt.
Selbst Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) kann sich über bessere Zahlen freuen. Die gute Konjunktur hat das Defizit des Bundes um 23,5 Milliarden Euro gedrückt. Nach dem Rekordjahr 2021 (215 Milliarden Euro Minus) sind es jetzt noch 115 Milliarden Euro. Lindner hat gute Chancen, die Schuldenbremse schon in diesem Jahr einzuhalten, auch wenn er etliche Ausgaben etwa für Rüstung oder die Stabilisierung der Gas- und Strompreise elegant ausgelagert hat.
Die Ampelkoalition hat sicher nicht immer eine glückliche Hand bei der Krisenbewältigung gezeigt – der Flop der Gasumlage, die Hilfen nach dem Gießkannenprinzip bei der Stabilisierung der Energiepreise oder der Tankrabatt spülten oft Milliarden in die falschen Taschen. Aber die energischen Maßnahmen, die Energieversorgung zu sichern, haben Erfolg gezeigt. Es ist eine Politik mit Licht und Schatten. Derzeit überwiegt eher das Licht.
„In diesem Winter geht nichts mehr schief“Klaus Müller Chef der Bundesnetzagentur