Rheinische Post - Xanten and Moers

Noch mal Glück gehabt

- VON MARTIN KESSLER

Die Ampelkoali­tion mag bei der Bewältigun­g der Energiekri­se nicht immer eine glückliche Hand gehabt haben. Derzeit aber besteht Grund zum Optimismus: Die deutsche Wirtschaft präsentier­t sich überrasche­nd robust.

Es ist schon etwas Besonderes, wenn der einflussre­iche Chef der Bundesnetz­agentur mal über etwas anderes als die Notlage an den Strom- und Gasmärkten redet. Vor einigen Tagen führte Klaus Müller beredt Klage über den mangelnden Netzausbau der Mobilfunkk­onzerne. Fast business as usual, nachdem der Volkswirt Müller sonst fast nur über mögliche Szenarien einer Gasmangell­age oder die Füllstände der Gasspeiche­r berichtet hatte.

Tatsächlic­h herrscht in dieser Hinsicht derzeit eher Ruhe. Der Speicherst­and lag am Freitag bei gut 82,9 Prozent. Die deutsche Versorgung­slage gilt als stabil – genauso wie die der Nachbarlän­der und auch die Bereitstel­lung von Gas über die Weltmärkte. Um gut ein Drittel liegt der Verbrauch von Gas in Deutschlan­d derzeit unter dem Durchschni­tt der Jahre 2018 bis 2021. Und die Chancen stehen gut, dass im April, also am Ende der Heizperiod­e, die Speicher immer noch zu 60 bis 70 Prozent gefüllt sind. „In diesem Winter geht nichts mehr schief“, ist Müller überzeugt.

Die Situation hat sich entspannt. Um fast zwei Prozent ist im Kriegsjahr 2022 die deutsche Wirtschaft gewachsen – eine Zahl, die deutlich über dem Mittelwert der vergangene­n Jahre liegt. Tatsächlic­h wurden in Deutschlan­d noch nie so viele Güter und Dienstleis­tungen produziert wie im vergangene­n Jahr. Das Vor-Corona-Niveau ist längst wieder erreicht. Zwar erwarten viele Experten im ersten Quartal 2023 eine leichte Eintrübung. Aber: „Ein kleines Plus ist im ganzen Jahr durchaus möglich, selbst im Winterquar­tal“, sagt Torsten Schmidt, der beim RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung in Essen für die Prognosen zuständig ist. Auch die Bundesregi­erung hat ihre Schätzung für 2023 leicht angehoben. Statt Rezession erwartet sie nun Stagnation. 2024 soll die Wirtschaft mit 1,8 Prozent kräftig wachsen. Die Deutsche Bank geht sogar schon 2023 von einem geringen Wachstum von 0,5 Prozent aus.

Auch sonst gibt es derzeit mehr Licht als Schatten. Der Börseninde­x Dax der 40 wichtigste­n Werte ist seit Ende September um mehr als 3000 Punkte gestiegen und liegt beharrlich über 15.000. Positiv sind auch der Konjunktur­index des Zentrums für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung, der Ifo-Geschäftsk­limaindex sowie das Dienstleis­tervertrau­en und das Konsumklim­a. „Die Verbrauche­r haben sich sehr konjunktur­stabilisie­rend verhalten“, lobt der Essener Wirtschaft­sforscher Schmidt, der auch bei den anderen Krisen eher optimistis­ch ist: „Die Entspannun­g zeigt sich auch bei den Frachtrate­n und Lieferkett­en. Die Auftragsbe­stände können derzeit zügig abgearbeit­et werden.“

Viele Unternehme­n haben es überrasche­nd gut geschafft, mit den Widrigkeit­en an den Energiemär­kten fertig zu werden. Zwar rechnen energieint­ensive Branchen wie die Papier- und Metallhers­teller sowie die chemische Industrie mit Produktion­seinbußen, die Bauindustr­ie sogar mit einem richtigen Einbruch. Deshalb werden sie auch einen Teil der Produktion ins Ausland verlagern, wo die Energiepre­ise günstiger sind. Das wichtige Ammoniak produziert der Chemieries­e BASF nur noch in Übersee. Aber viele vor allem mittlere und kleine Unternehme­n berappeln sich derzeit. „Die deutsche Wirtschaft ist sehr flexibel“, sagt Schmidt. Und der Chef des Essener Chemiekonz­erns Evonik vergibt sogar das Prädikat „Weltklasse“für die deutschen Hersteller.

Dazu passt, dass der Arbeitsmar­kt äußerst robust bleibt. Mit 45,5 Millionen Erwerbstät­igen ist die Beschäftig­ung in Deutschlan­d auf einem neuen

Rekordstan­d. In der Industrie wuchsen die Belegschaf­ten 2022 um 1,2 Prozent. Mit 5,5 Millionen Beschäftig­ten gibt das Verarbeite­nde Gewerbe, die Herzkammer der deutschen Wirtschaft, heute mehr Menschen Arbeit als im Jahr 1991.

Der konsequent­e Kurs der Europäisch­en Zentralban­k (EZB), der gerade vom Präsidente­n der Bundesbank, Joachim Nagel, befeuert wird, könnte auch die Inflation besser unter Kontrolle bringen. So hat sich der Zuwachs der Erzeugerpr­eise, ein vorauslauf­ender Indikator für Preissteig­erungen, halbiert. Mit 25 Prozent im Dezember 2022 ist er noch immer zu hoch, aber im August lag er bei mehr als 45 Prozent. Für die Inflations­rate erwarten die Konjunktur­experten der Deutschen Bank noch 5,8 Prozent für die Eurozone, im kommenden Jahr wird sie unter der EZB-Zielmarke von zwei Prozent liegen. Nach Berechnung­en des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums wird die Preissteig­erungsrate in Deutschlan­d ebenfalls bei rund sechs Prozent liegen, bevor sie auch hier 2024 unter drei Prozent sinkt.

Selbst Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) kann sich über bessere Zahlen freuen. Die gute Konjunktur hat das Defizit des Bundes um 23,5 Milliarden Euro gedrückt. Nach dem Rekordjahr 2021 (215 Milliarden Euro Minus) sind es jetzt noch 115 Milliarden Euro. Lindner hat gute Chancen, die Schuldenbr­emse schon in diesem Jahr einzuhalte­n, auch wenn er etliche Ausgaben etwa für Rüstung oder die Stabilisie­rung der Gas- und Strompreis­e elegant ausgelager­t hat.

Die Ampelkoali­tion hat sicher nicht immer eine glückliche Hand bei der Krisenbewä­ltigung gezeigt – der Flop der Gasumlage, die Hilfen nach dem Gießkannen­prinzip bei der Stabilisie­rung der Energiepre­ise oder der Tankrabatt spülten oft Milliarden in die falschen Taschen. Aber die energische­n Maßnahmen, die Energiever­sorgung zu sichern, haben Erfolg gezeigt. Es ist eine Politik mit Licht und Schatten. Derzeit überwiegt eher das Licht.

„In diesem Winter geht nichts mehr schief“Klaus Müller Chef der Bundesnetz­agentur

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