Rheinische Post - Xanten and Moers
Erinnern mit Tiktok
Die Holocaust-Überlebende Tova Friedman nutzt die Videoplattform, um über ihre Erfahrungen zu sprechen. So erreicht sie eine Generation, die wenig über die Vergangenheit weiß.
NEW JERSEY/DÜSSELDORF Eine rüstige 84-Jährige, die Videos auf die Plattform Tiktok stellt, ist allein schon ungewöhnlich. Dass die Dame eine Auschwitz-Überlebende ist, die in nur wenige Sekunden langen Clips Faktenwissen über den Holocaust und ihre Erinnerungen im Vernichtungslager präsentiert, umso mehr. Das Gedenken an die Shoah ist im Tiktok-Zeitalter angekommen – um eine Brücke zu jungen Menschen zu bauen.
Tova Friedman hat in ihrem hohen Alter noch den Kampf gegen heutigen Antisemitismus und Unwissenheit über die Geschichte aufgenommen. Die gebürtige Polin und heutige US-Amerikanerin lebt im Bundesstaat New Jersey und betreibt mit ihrem Enkel Aron einen Tiktok-Kanal mit knapp 490.000 Abonnenten. Ihre Videos erreichen teils Millionen Aufrufe. Die Idee dazu kommt Aron nach einem Besuch seiner Großmutter und ihrer Enkel im Sommer 2020, im Lager Auschwitz, 75 Jahre nach der Befreiung. Er begleitet die Rückkehr seiner Großmutter filmisch und stellt Teile davon auf Tiktok. „Ich sagte zu Großmutter: Lass uns Videos drehen. Die Leute auf Tiktok reden über den Holocaust, das ist ein großartiger Ort, deine Geschichte zu erzählen“, sagt Aron in einer MDR-Doku. Friedman willigt ein: „Ich hatte vorher noch nie etwas von Tiktok gehört. Unsere Zuschauer fragten: Ist das wirklich passiert? Zeigen Sie mal Ihre Häftlingsnummer“, sagt sie. In den Videos beantwortet sie weitere Fragen, etwa was sie vom Sterben in den Gaskammern mitbekommen hat.
Am 27. Januar 1945 befreien sowjetische Truppen das Vernichtungslager Auschwitz. Zuvor versteckt die damals sechsjährige Tova Friedman sich tagelang zwischen Leichen auf der Krankenstation. Kaum merklich atmend unter Decken entgeht sie der Erschießung durch die Nazis. Friedman gehört mit zu den jüngsten Überlebenden des Völkermords, einige wenige sind noch jünger. Insgesamt rund 150.000 Überlebende gibt es noch in Israel, einige zehntausend weitere leben noch im Rest der Welt. Sie sterben aus, bald wird es sie nicht mehr geben.
Mit ihrem Kanal ist Friedman aber nicht die einzige HolocaustÜberlebende. Auch der 87-jährige Israeli Gidon Lev und die 99-jährige Ungarin Lily Ebert erreichen auf Tiktok Millionen Nutzer. Sie kämpfen gegen das Vergessen und zunehmenden Antisemitismus. Allein in Deutschland nehmen die Fälle seit Jahren zu. Während 2020 schon ein neuer Höchststand mit 2350 antisemitischen Straftaten bundesweit erreicht wurde, stieg diese Zahl 2021 laut Bundesinnenministerium auf über 3000.
Auf Tiktok sind rund zwei Drittel der Nutzer zwischen 16 und 24 Jahre alt. Und es ist die Generation Z, also jene zwischen 1997 und 2012 geborenen Menschen, die ein erstaunlich geringes Wissen über den Holocaust aufweisen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie unter niederländischen Millennials und GenerationZ-Angehörigen zeigte, dass rund ein Viertel der Befragten den Holocaust für ein Mythos oder die Zahl der Opfer für stark übertrieben halten. Eine MEMO-Studie zeigte 2021 aber auch, dass rund 85 Prozent dieser Generation es für wichtig hält, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Und doch ist Holocaust-Literatur, also Schriften aus der Überlebenden-Perspektive, nicht verpflichtend in den Deutsch-Lehrplänen der Schulen verankert. Das wollen Deutschlehrer des Deutschen Germanistenverbands in einem Positionspapier
an die Kultusministerkonferenz ändern. Tiktok, ein Medium, das viele sicher eher mit belanglosen Videoschnipseln zum Zeitvertreib verbinden, erscheint als Plattform für so ernste Themen erst einmal ungewöhnlich.
Doch die Vermittlung von Wissen via soziale Medien kann hilfreich sein, wenn die Schule in der Aufklärung über die Vergangenheit einen sinkenden Einfluss hat und der Weg ins Museum mit seinen langatmigen Infotafeln für viele junge Leute eine Hürde darstellt. Ansprechend macht es das New Yorker Museum of Jewish Heritage, das zuvor aufgenommene Videos mit Überlebenden per Hologramm in die Museumsräume holt – so können Besucher auch künftig mit ihnen interagieren.