Rheinische Post - Xanten and Moers
Der Kampf gegen die Keime
Corona hat eine andere Dramatik im Gesundheitssystem in den Hintergrund treten lassen: resistente Keime. Nun hat die schwedische Ratspräsidentschaft die nicht mehr behandelbaren Krankheiten nach oben auf die Agenda gesetzt.
BRÜSSEL Sie lauern inzwischen überall. Und um das zu unterstreichen, schaut der Infektionsforscher Professor Ulrich Schaible aufs Publikum in der hessischen Landesvertretung in Brüssel – und stellt fest: „Es gibt sicherlich auch hier im Saal Menschen, die Staphylococcus aureus auf der Haut tragen.“Den einen oder anderen mag es da beim Blick auf Hals und Hände des Nachbarn direkt jucken. Doch Schaible beruhigt: „Das ist kein Problem, solange man nicht krank wird.“Doch spätestens, wenn eine Operation nötig wird, kann das lebensgefährlich sein. Denn das Bakterium hat gegen viele Antibiotika eine Resistenz entwickelt. So wie zahlreiche andere auch. Daher spricht Schaible denn auch von einer „globalen Krise“.
Waren Schätzungen bis vor wenigen Jahren noch davon ausgegangen, dass bis zu 30.000 Menschen Jahr für Jahr in der EU sterben müssen, weil sie wegen tückischer Bakterien-Infektionen nicht mehr behandelt werden können, so gehen Gesundheitsexperten inzwischen bereits von 35.000 Toten durch Antibiotika-Resistenzen aus. Es wird nicht ausgeschlossen, dass die Zahl künftig auf 50.000 steigen könnte. Global seien jährlich bereits fünf Millionen Tote zu beklagen. Schaible nennt das eine „stille Pandemie“. Still vor allem, weil die Öffentlichkeit bisher kaum Notiz davon nimmt.
Eingeweihte sehen dagegen die wachsende Brisanz: Die schwedische Ratspräsidentschaft hat dem verschärften Vorgehen gegen Antibiotika-Resistenzen nun oberste Priorität eingeräumt. Der Zugang zu den antimikrobiellen Mitteln müsse nachhaltiger gestaltet werden. In der Pipeline sind bereits neue Regeln für den Umgang mit Pharma-Produkten. Der eingeschränkte Zugang zu sogenannten Reserve-Antibiotika und deren Entwicklung könnten damit auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt werden. Reserve-Antibiotika sind Wirkstoffe, die nur für Notfälle bereitgehalten werden, wenn sonst nichts mehr funktioniert. Die große Sorge ist, dass auch sie so oft eingesetzt werden, dass die
Bakterien dagegen ebenfalls resistent werden.
Im vergangenen Frühsommer hat das EU-Parlament schon einmal versucht, größtmögliche Einschränkungen für Antibiotika in der Tierzucht durchzusetzen – und fand letztlich nur eine Mehrheit für eine abgespeckte Version. „Das war Lobbydruck der übelsten Sorte“, erinnert sich der Grünen-Agrarpolitiker Martin Häusling. Durch die falsche Behauptung, Hunde, Katzen und andere Haustiere könnten künftig nicht mehr behandelt werden, wenn die Liste strenger konzipiert würde, seien viele Parlamentarier verunsichert worden. „Die Tierärzte
hatten eine sehr gut organisierte Lobby“, sagt der CDU-Gesundheitspolitiker Peter Liese. „Die haben uns sehr unter Druck gesetzt.“So sehr er sich damals für die verschärfte Variante einsetzte, so sehr betont er die Dringlichkeit: 20 Prozent der Resistenzen entstünden bei der Behandlung von Tieren, 80 Prozent bei der Anwendung am Menschen. „Meine Berufskollegen setzen zu viele Antibiotika unkritisch ein, das muss besser werden“, unterstreicht der Arzt und Europa-Abgeordnete Liese.
Die Problem-Beschreibung durch Schaible, den Leiter eines speziellen Antibiotika-Forschungszentrums im schleswig-holsteinischen
Borstel, löst Bedrückung aus: Resistenzen würden zunehmend nicht nur bei Bakterien, sondern auch bei Pilzen und Viren beobachtet. Bei Tuberkulose nähmen die Fälle „massiv“zu. Immer mehr Patienten könnten nicht mehr behandelt werden. Pilze verursachten weltweit bereits 1,5 Millionen Tote jährlich, vor allem in der Intensivmedizin. Und doch seien vor allem in den ärmeren Ländern Antibiotika oft frei verkäuflich. Hinzu komme, dass viele Fälschungen auf dem Markt seien. Diese hätten einen geringeren Anteil an Wirkstoffen, würden also die Keime nur halbherzig bekämpfen und bildeten damit das ideale Umfeld
für eine Evolution hin zu Resistenzen. Schaible stellt jedoch auch fest: „Wir können gegensteuern.“Dazu gehöre, Antibiotika weltweit nur noch gegen die Erreger einzusetzen, gegen die sie auch wirksam seien. Das erfordere ein besseres Frühwarnsystem zum Auftreten neuer Resistenzen. Und dazu gehöre die Erforschung und Erprobung neuer Wirkstoffe.
Dem stimmt Liese zu: „Ohne neue Antibiotika wird das alles nichts.“Der Haken: Die Entwicklung kostet zwischen 500 Millionen und drei Milliarden Euro, wie Wolfgang Philipp, Vize-Chef der EU-Gesundheitsbehörde Hera vorrechnet. Kämen die neuen Antibiotika dann in den Panzerschrank für Notfälle, wüssten die Pharma-Unternehmen, dass sie die Ausgaben nie wieder einspielen könnten, erläuterte Liese.
Deshalb arbeite die Kommission an einem neuen Vorschlag: Es gehe – wie bei Arzneimitteln für Kinder und gegen seltene Erkrankungen – um ein System, das den Firmen einen höheren Schutz des geistigen Eigentums gewähre, um die zusätzlichen Kosten zu decken. „Ein ähnliches System befürworte ich auch für Antibiotika“, sagt Liese unserer Redaktion. Sein Appell: „Wir diskutieren schon seit zehn Jahren über das Problem, und es wird endlich Zeit, dass wir es lösen.“