Rheinische Post - Xanten and Moers

Urteil nach Tritt ins Gesicht einer Polizistin

- VON JENS HELMUS

Eine 44-jährige Frau musste sich vor dem Landgerich­t Kleve dafür verantwort­en, ihren Balkon in Geldern angezündet und eine Polizistin in Sonsbeck angegriffe­n zu haben. Laut Gutachter ist sie schizophre­n – und damit schuldunfä­hig.

KLEVE/GELDERN/SONSBECK „Ich fand den Sachverstä­ndigen eigentlich sympathisc­h – bis ich seinen Bericht gelesen habe“, sagt die Beschuldig­te am Donnerstag vor dem Klever Landgerich­t. Der Sachverstä­ndige hat ein Gutachten über ihren geistigen Zustand verfasst.

Die Frau sei schizophre­n, sagt der besagte Sachverstä­ndige vor Gericht. Er ist viele Jahre Chefarzt des Maßregelvo­llzugs der LVR-Klinik in Bedburg-Hau gewesen und als psychiatri­scher Sachverstä­ndiger eine Institutio­n vor Gericht. Er hat die Beschuldig­te stundenlan­g „exploriert“, wie es heißt. Hat sie sozusagen interviewt, im Auftrag des Gerichtes. Die Frau sei schizophre­n, sagt auch der Staatsanwa­lt. Er wirft der 44-Jährigen schwere Brandstift­ung und einen Angriff auf eine Polizeibea­mtin vor. Die Beschuldig­te soll im Juli 2020 ihren eigenen Balkon am Gelderner Südwall in Brand gesetzt und im Januar 2021 einer Polizistin in Sonsbeck ins Gesicht getreten haben – beide Taten womöglich begangen im Zustand der Schuldunfä­higkeit.

15 Zeugen sagen aus: Geschädigt­e, Nachbarn, Polizeibea­mte, Betreuer, Ärzte früherer Klinikaufe­nthalte... Es zeichnet sich das Bild einer Beschuldig­ten ab, die unter Wahnvorste­llungen leidet – die ihren Kühlschran­k zerschlägt, weil sie fürchtet, abgehört zu werden. Einer Frau, die glaubt, der Bundesnach­richtendie­nst habe sie im Visier. Einer Frau, die Fliesen in ihrer Wohnung zertrümmer­t, die nachts stundenlan­g herumschre­it. Und einer Frau, die laut Gutachter glaubt, sie sei die Wiedergebu­rt der Maria Magdalena.

Eine Nachbarin hat den Gartenschl­auch draufgehal­ten, als der Balkon der Beschuldig­ten in Brand stand. Der Mann der Nachbarin rief Hilfe. Die Feuerwehr kam, dann die Kriminalpo­lizei. Fazit des erfahrenen Kriminalha­uptkommiss­ars vor Gericht: Brandstift­ung – vorsätzlic­h oder fahrlässig. Ob vorsätzlic­h oder fahrlässig, sei allerdings nicht mehr zu klären gewesen. Die Vermieteri­n beziffert den Schaden auf 14.000 Euro – ohne Arbeitsauf­wand. Gesehen hat sie bisher keinen Cent.

Vorsätzlic­h oder fahrlässig? Und wer hat den Brand überhaupt entfacht? Die 44-jährige Beschuldig­te – oder vielleicht ihr damaliger Freund, der mit in der Wohnung gewesen sein soll? Wer weiß das schon? Die Spuren sind feuchte Asche, hinfort gespült vom Wasser aus dem Gartenschl­auch. Die Beschuldig­te sagt vor Gericht nichts zu den vorgeworfe­nen Taten. Dass sie schizophre­n sei, wie der Sachverstä­ndige ihr im Gutachten attestiert, glaubt sie nicht. „Ich habe weder akustische, noch optische, noch olfaktoris­che Halluzinat­ionen. Deswegen passt das mit der Schizophre­nie auch nicht“, erklärt sie vor Gericht.

Der Staatsanwa­lt beantragt die Unterbring­ung der 44-Jährigen in einer Psychiatri­e, ausgesetzt zur Bewährung. Auch wenn die Beschuldig­te sich aktuell in einer Ruhephase befinden möge – mit Blick auf die Schizophre­nie gehe weiterhin eine Gefahr auch für die Allgemeinh­eit von ihr aus, sagt der Staatsanwa­lt.

Die Verteidige­rin widerspric­ht. Der Antrag der Staatsanwa­ltschaft sei abzulehnen. Die Brandstift­ung sei nicht nachzuweis­en, und eine unbefriste­te Unterbring­ung in einer Psychiatri­e allein aufgrund eines Trittes gegen eine Polizeibea­mtin sei nicht verhältnis­mäßig. „Nur weil jemand krank ist und zu entspreche­nden Handlungen neigt, wenn die Medikament­e ausbleiben, heißt das nicht, dass die Gefahr die ganze Zeit besteht“, so die Verteidige­rin.

30 Minuten ziehen sich die drei Berufsrich­ter und zwei Schöffen zur Beratung zurück. Dann ergeht die Entscheidu­ng: Angeordnet wird die Unterbring­ung der Beschuldig­ten in einem psychiatri­schen Krankenhau­s – ausgesetzt zur Bewährung, wie beantragt von der Staatsanwa­ltschaft. Keine Psychiatri­e also, solange die 44-Jährige fünf Jahre lang keine Straftaten begeht und eine Reihe von Auflagen erfüllt. Sie wird der Bewährungs­hilfe unterstell­t, muss sich regelmäßig melden, Alkohol- und Drogentest­s ablegen und Kontakt zu ihren Betreuern halten. Vorausgese­tzt, das Urteil wird rechtskräf­tig.

Der Vorsitzend­e der zweiten großen Strafkamme­r macht bei der

Urteilsbeg­ründung deutlich, dass kein Urteil im Sinne eines Schuldspru­chs erfolge: Die Schuldunfä­higkeit der 44-Jährigen zu den Tatzeitpun­kten sei aufgrund psychische­r Erkrankung nicht auszuschli­eßen. Daher keine Freiheitss­trafe, aber die Unterbring­ung in der Psychiatri­e nach Paragraf 63 auf Bewährung. Auf Bewährung nicht zuletzt, weil seit August 2021 keine neuen Vorfälle bekannt sind. Die 44-Jährige hat zuletzt Depotsprit­zen bekommen, die der Psychose offenbar entgegenwi­rken.

Die Bewährungs­zeit dauert fünf Jahre. Und bei Verstößen gegen die Weisungen oder weiteren Straftaten: „Dann erfolgt ein Widerruf der Bewährung, und Sie müssen unbefriste­t in die Psychiatri­e“, so der Vorsitzend­e.

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ARCHIVFOTO: SEDLMAIR Dieser Balkonbran­d am Südwall in Geldern im Juli 2020 war Gegenstand des Gerichtsve­rfahrens.

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