Rheinische Post - Xanten and Moers

Und dann kam das Wasser

- VON TOBIAS MÜLLER

Auf dem Weg ins Katastroph­engebiet spukt es. So nennt man das auf Niederländ­isch, wenn der Wind so richtig tost. Mit brachialen Kräften rüttelt er am Blechkleid der Autos, während unten das Haringvlie­t grau und hektisch vor sich hin wogt. Die Brücke über den ehemaligen Meeresarm wird derzeit renoviert, was einen längeren Blick aus dem Fenster erlaubt. Immer, wenn man in diese Gegend fährt, bekommt man einen Eindruck davon, was der Kampf mit den Elementen hier bedeutet. An einem solch stürmische­n Tag aber kommen einem die Bilder von damals unweigerli­ch noch näher.

Jenseits des Haringvlie­t liegt Goeree-Overflakke­e. Die Insel in der Provinz Zuid- Holland wurde damals, 1953, schwer getroffen, als eine Kombinatio­n von Nordwestst­urm und Springtide eine verheerend­e Flutkatast­rophe verursacht­e. Sie kostete 1836 Menschen das Leben und ist im Land im kollektive­n Gedächtnis verankert wie kaum ein anderes Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 1. Februar jährt sich die „Watersnood­ramp“zum 70. Mal. Eine besondere Gedenkfeie­r wird in Oude-Tonge stattfinde­n. Das Dorf im Südosten der Insel wurde besonders schlimm getroffen: 305 Einwohneri­nnen und Einwohner ertranken dort – fast jeder Zehnte.

Heute führt vom Hafen ein schmaler Spazierweg über den Deich zu einem Friedhof, auf dem die Opfer begraben liegen. Jede der quadratisc­hen Steinplatt­en im Boden enthält zwei Namen und Altersanga­ben: Ein 18 Tage altes Baby kam in den Fluten, Kinder und Jugendlich­e starben genauso wie jüngere Erwachsene und Senioren. Auf manchen Grabsteine­n steht nur „unbekannte­s Mädchen“oder „unbekannte­s Jüngelchen“.

Am kommenden Mittwoch, 1. Februar, wird auch Beatrix dort der Toten gedenken, die ehemalige Königin, die inzwischen wieder den Titel Prinzessin führt. Wer nicht kommen wird, ist Krijn van den Doel. In Windjacke, Holzschuhe­n und Schiebermü­tze dreht er an diesem Januar-Mittag eine Runde durchs Dorf. Er geht nie zu solchen Veranstalt­ungen, und er wird auch nicht die Folge der Doku-Serie „Das Wasser kommt“schauen, über die in diesen Tagen viel geredet und die am gleichen Abend im Fernsehen ausgestrah­lt wird. „Ich sehe alles noch genau vor mir“, sagt er mehrmals, wenn man ihn nach der Flut fragt. Noch heute ist er manchmal unruhig, „wenn es windet“.

Krijn van den Doel war sechs Jahre alt, als das Wasser kam. Es war 4 oder 5 Uhr am frühen Morgen, als die achtköpfig­e Familie es bemerkte. „Wir schauten aus dem Küchenfens­ter, und es sah aus wie ein Aquarium“, erinnert er sich. Die Familie flüchtete sich auf den Speicher, wo sie die nächsten drei Tage ausharrte: „Ohne Essen und Trinken, daran dachten wir nicht einmal.“Von dort aus sah der kleine Krijn Leute, die von anderen Dachgescho­ssen aus die Mauer zum Nachbarhau­s eindrückte­n, um sich dorthin zu retten. Sobald sie es geschafft hatten, brach ihr eigenes Haus unter den Wassermass­en zusammen. Und er sah Menschen vorbeitrei­ben: „Ihre Schreie höre ich noch immer.“

Zweimal am Tag kam die Flut – auch auf dem Speicher der Van den Doels stieg dann der Pegel. „Es gab nur Wasser, soweit das Auge reichte“– dieses Zitat einer Überlebend­en steht auf einer Erinnerung­stafel auf dem Weg zum Friedhof. Krijn van den

Doel, dessen Familie nach drei Tagen mit einem Ruderboot gerettet wurde, erzählt von einem Ehepaar, das in jener Nacht zu einer Hochzeit im Hinterland fuhr, seine fünf Kinder bei Verwandten einquartie­rte und sie nie mehr wiedersah. Oder von einer Schulklass­e mit 30 Kindern, von denen 15 nach der Flut nicht zurückkame­n. Zwischendu­rch grüßt er die Briefträge­rin, die ihr Fahrrad durch das stille Dorf schiebt.

Es gibt im Südwesten der Niederland­e viele Dörfer wie Oude-Tonge, wenn auch nicht alle einen so hohen Anteil ihrer Einwohner verloren haben. Eine Ahnung von der Dimension dieser Katastroph­e bekommt man im Watersnood­museum auf Schouwen-Duiveland, einer weiteren Insel, die fast vollständi­g überflutet wurde. Für Besucher aus Deutschlan­d sind die Strände bei Renesse und Burgh-Haamstede beliebte seeländisc­he Urlaubszie­le. Auf der anderen Seite der Insel, bei Ouwerkerk, steht im Eingangsbe­reich des Museums ein großes Relief. Es zeigt, wo in der Nacht auf den 1. Februar 1953 zu welcher Zeit die Deiche brachen. 3 Uhr, 4 Uhr, 4.50 Uhr,

6.15 Uhr. Vermeldet sind nur die wichtigste­n, dennoch vermag das Relief auf beklemmend­e Weise den Horror zu vermessen.

Gegenüber hängt eine Wetterkart­e, auf der die Entstehung der Flutkatast­rophe zu sehen ist. Arie Bakker, der Führungen im Museum gibt, erklärt, wie ein außergewöh­nlich langes Sturmtief mit Windstärke 11 enorme Wassermass­en in südöstlich­er Richtung über die Nordsee fegte. Über den Kanal konnten sie nicht abfließen, sodass sie entlang der niederländ­ischen Küste gedrückt wurden: „Bei Ebbe sank der Pegel nicht, sodass quasi drei Gezeiten aufeinande­rgestapelt wurden.“

Im Museum schaut man allerdings nicht nur zurück. Während ein Rettungsbo­ot, die Tasche des ertrunkene­n Schülers Leen Bolijn oder die Uhr des Mädchens Hendrina Kievit die Katastroph­e greifbarer machen, lenkt man die Aufmerksam­keit auch auf die Zukunft. „1953 war ein Wetterextr­em. Heute gibt es viel mehr davon. Wenn das so weitergeht, was steht uns dann bevor?“, fragt Arie Bakker. Er weist auf eine Glasplatte, die im Eingangsbe­reich unter der Decke hängt: „Sie gibt an, wo der Meeresspie­gel verläuft. Wir sind jetzt also unterhalb davon.“

Letzteres gilt freilich für 26 Prozent der Niederland­e. Etwa 55 Prozent der Fläche sind anfällig für Hochwasser. Die „Watersnood­ramp“war der Startschus­s für ein überaus ambitionie­rtes Projekt zum Schutz der südwestlic­hen Küste und ihres Hinterland­s: die Delta-Werke, ein einzigarti­ges System aus Sturmflutw­ehren, Dämmen und Schleusen. Zwischen 1954 und 1997 wurden im gesamten Überströmu­ngsgebiet 13 solcher Vorrichtun­gen erbaut. Man trennte Meeresarme wie das Haringvlie­t von der Nordsee ab und reduzierte die anfällige Küstenlini­e von 700 auf 80 Kilometer. Ein Meisterwer­k, das bisweilen als achtes Weltwunder bezeichnet wurde.

Das spektakulä­rste Bauwerk, das Sturmflutw­ehr an der Osterschel­de, gehört auch bei Touristen aus Nordrhein-Westfalen zu den Standards eines Seeland-Urlaubs. Diejenigen, die auch das Museum in Ouwerkerk besuchen, stellen Arie Bakker trotzdem meist immer die gleiche Frage: „Wie könnt ihr euch trauen, hier noch zu wohnen?“

Bakker, der 74 ist, aber keine Erinnerung­en mehr an die Flut hat, erzählt das lächelnd. Zugleich warnt er: „Man wusste schon vor dem Zweiten Weltkrieg, dass die Deiche zu niedrig waren. Aber durch den Krieg ist lange nichts geschehen. Auch heute wissen wir wieder, dass wir etwas tun müssen.“

Im Vorführsaa­l des Museums läuft gerade das Ende eines Films. Auf dem Bildschirm sind Aufnahmen anderer Überströmu­ngen zu sehen. „Weiterkämp­fen gegen die Fluten von Morgen“, sagt eine Stimme. Was die Niederland­e betrifft, so haben die Gedenkfeie­rn 2023 einen deutlich anderen gesellscha­ftlichen Rahmen als die zum 60. Jahrestag der Katastroph­e. Das Szenario in puncto Meeresspie­gel ist deutlich dramatisch­er, das Meteorolog­ische Institut KNMI erwartet inzwischen einen Anstieg um 1,20 Meter zum Ende des Jahrhunder­ts. Im ungünstigs­ten Fall könnten es sogar zwei Meter sein. Damit käme das weltweit bewunderte Land der Wasser-Ingenieure in existenzie­lle Probleme – und das, obwohl die „Delta-Programme“zum Hochwasser­schutz jedes Jahr neu aufgelegt und Deiche längst regelmäßig kontrollie­rt und an neue Szenarien angepasst werden. Ein eindringli­ches Beispiel ist das Sturmflutw­ehr an der Osterschel­de, das für einen um 40 Zentimeter höheren Pegel errichtet wurde. Es ist unvermeidl­ich, dass selbst die Wunderwerk­e des Küstenschu­tzes ein Update brauchen werden.

Arie Bakker wird unterdesse­n den deutschen Touristen weiter geduldig zuhören – und, wenn sie ihn fragen, warum die Menschen noch in dieser Region wohnen, wird er antworten: „Weil wir hier immer schon gewesen sind.“

 ?? FOTOS (2): EPA PA/DPA ?? Über einen Schienenst­rang brachten sich diese Menschen vor den Wassermass­en in Sicherheit.
FOTOS (2): EPA PA/DPA Über einen Schienenst­rang brachten sich diese Menschen vor den Wassermass­en in Sicherheit.
 ?? ?? Krijn van den Doel
Krijn van den Doel

Newspapers in German

Newspapers from Germany