Rheinische Post - Xanten and Moers

Macrons letzte Chance

- VON CHRISTINE LONGIN

Der französisc­he Präsident will als großer Gestalter in die Geschichte eingehen. Doch sein politische­s Erbe entscheide­t sich an der umstritten­en Rentenrefo­rm, deren Erfolg keineswegs garantiert ist.

Vor Weihnachte­n ließ sich Emmanuel Macron von Autisten interviewe­n. Der 45-Jährige fühlte sich sichtlich wohl im Stuhlkreis der Fragestell­erinnen und Fragestell­er, die ihn auf seine 25 Jahre ältere Ehefrau, sein Gehalt und seinen Hund ansprachen. Das ungewöhnli­che Format dürfte ihn an seinen ersten Wahlkampf 2016 erinnert haben, als er mit seiner Bewegung En Marche von Haustür zu Haustür ging, um im direkten Gespräch zu überzeugen.

Macron war damals ein junger Mann, der mit unkonventi­onellen Ideen die verkrustet­en Strukturen Frankreich­s aufzubrech­en versuchte. „Revolution“hieß das Buch, in dem er sich für die Präsidents­chaft empfahl. Doch nach sechs Jahren im Amt ist von der Reformdyna­mik des einstigen Hoffnungst­rägers wenig übrig geblieben.

Die jetzt angepackte Rentenrefo­rm dürfte seine letzte große Chance sein.

Die „Mutter aller Reformen“war in Frankreich seit jeher der Gradmesser dafür, ob ein Präsident zu umwälzende­n Veränderun­gen fähig ist. Denn das niedrige Renteneint­rittsalter gilt als eine der großen sozialen Errungensc­haften des Landes. Macron hatte schon 2019 versucht, das komplizier­te Rentensyst­em mit 42 Sonderrege­lungen für einzelne Berufsgrup­pen zu reformiere­n. Damals wollte er die ungerechte Berechnung­sgrundlage abschaffen, die Privatwirt­schaft von öffentlich­em Dienst trennt, und ein einheitlic­hes Punktesyst­em einführen. Von dem ehrgeizige­n Plan, den die Corona-Pandemie ausbremste, ist allerdings nicht viel übrig geblieben. Die nun vorgestell­te Reform sieht vor allem eine Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s von 62 auf 64 Jahre vor, nachdem der Präsident im Wahlkampf noch von 65 Jahren gesprochen hatte. „Im Gegensatz zu Macrons erstem Reformvorh­aben ist das kein Projekt, das eine gesamtgese­llschaftli­che Veränderun­g bedeutet“, analysiert der Politologe Bruno Cautrès. „Es reicht nicht, um seiner zweiten Amtszeit einen Sinn zu geben.“

Die Reform geht nämlich nicht viel weiter als ähnliche Initiative­n seiner Vorgänger: Nicolas Sarkozy setzte das Eintrittsa­lter gegen massiven Widerstand auf der Straße um zwei Jahre von 60 auf 62 Jahre hoch und François Hollande erhöhte die Zahl der Beitragsja­hre, die nötig sind, um in Rente zu gehen, auf 43.

Seine erste Amtszeit hatte Macron 2017 gleich mit einer ganzen Serie an Reformen begonnen. Anfangs schien dem jüngsten Staatschef der Fünften Republik auch alles zu gelingen. Die Bahnreform, die vielen großzügige­n Ausnahmere­geln für Bahnangest­ellte ein Ende machte, wurde trotz wochenlang­er Streiks verabschie­det. Parallel dazu wurde das Arbeitsrec­ht weiter liberalisi­ert, Kündigunge­n wurden erleichter­t und die Mitsprache der Gewerkscha­ften in kleinen und mittleren Betrieben gestrichen. Macrons Rechnung ging auf: Die Unternehme­n wagten wieder mehr Neueinstel­lungen und die Arbeitslos­igkeit sank von 10,7 Prozent 2015 auf 7,3 Prozent.

Auf den Höhenflug folgte allerdings der Absturz. Im Herbst 2018 ging die aus dem Nichts aufgetauch­te Bewegung der Gelbwesten gegen die Erhöhung der Ökosteuer auf Benzin auf die Straße. Sie wurden zum Zeichen des Bruchs zwischen einem als arrogant und abgehoben geltenden Staatsober­haupt und seinem Volk, der bis heute nicht gekittet ist.

Die Spaltung des Landes hatte sich lange vor Macron angedeutet, doch schuld an der Brutalität des Phänomens war auch der Präsident selbst, der sich als Jupiter gottgleich das Land regieren sah. „Macron hat auf eine extreme Zentralisi­erung der Macht gesetzt, um seine Reformen

durchzuset­zen“, bemerkt Joseph de Weck, Autor des Buches „Emmanuel Macron – Der revolution­äre Präsident“. Seit Charles de Gaulle, mit dem Macron sich gerne vergleicht, habe kein Präsident mehr so viel Macht vereint.

Im April gewann Macron zwar die Stichwahl um das Präsidente­namt mit 58,5 zu 41,5 Prozent gegen die Rechtspopu­listin Marine Le Pen, doch es war ein glanzloser Sieg. Viele Wählerinne­n und Wähler stimmten lediglich für ihn, um Le Pen zu verhindern. Dennoch ging der Staatschef nach seiner Wiederwahl gewohnt forsch die Rentenrefo­rm an, die zum zentralen Bestandtei­l seines politische­n Erbes werden soll. Denn auch wenn Frankreich eine der höchsten Geburtenra­ten in Europa hat, droht der Rentenkass­e bis 2030 ein Defizit von 13,5 Milliarden Euro. Die Ausgangssi­tuation ist diesmal allerdings deutlich schlechter als bei Macrons erstem Versuch: Seit den Parlaments­wahlen hat er nämlich in der Nationalve­rsammlung keine absolute Mehrheit mehr und muss seine Vorhaben mühsam mit wechselnde­n Partnern durchsetze­n.

Für die Rentenrefo­rm haben die Konservati­ven zwar bereits Zustimmung signalisie­rt. Doch massive Streiks und Proteste, die bereits mehr als eine Million Menschen auf die Straße brachten, könnten das Projekt noch stoppen.

Dass jüngst so viele Menschen gegen die Reform demonstrie­rten, überrascht­e auch die Regierung. Sie fürchtet ein Szenario wie 1995, als schon einmal eine Reform des Rentensyst­ems abgesagt wurde, weil gut zwei Millionen Menschen dagegen protestier­ten. Der Präsident muss nun einen Weg finden, um den Widerstand zu schwächen. Im Gespräch sind Zugeständn­isse bei der Mindestren­te und ein Vorziehen des Eintrittsa­lters für alle, die früh zu arbeiten anfingen. Ob er damit die Wut besänftige­n kann, ist nicht sicher. Die Gelbwesten und ihre Nachfolger haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Sie könnten die Erinnerung an Macrons Präsidents­chaft mehr prägen als dessen Reformen.

„Macron hat auf eine extreme Zentralisi­erung der Macht gesetzt, um seine Reformen durchzuset­zen“Joseph de Weck Buchautor

Newspapers in German

Newspapers from Germany