Rheinische Post - Xanten and Moers
Macrons letzte Chance
Der französische Präsident will als großer Gestalter in die Geschichte eingehen. Doch sein politisches Erbe entscheidet sich an der umstrittenen Rentenreform, deren Erfolg keineswegs garantiert ist.
Vor Weihnachten ließ sich Emmanuel Macron von Autisten interviewen. Der 45-Jährige fühlte sich sichtlich wohl im Stuhlkreis der Fragestellerinnen und Fragesteller, die ihn auf seine 25 Jahre ältere Ehefrau, sein Gehalt und seinen Hund ansprachen. Das ungewöhnliche Format dürfte ihn an seinen ersten Wahlkampf 2016 erinnert haben, als er mit seiner Bewegung En Marche von Haustür zu Haustür ging, um im direkten Gespräch zu überzeugen.
Macron war damals ein junger Mann, der mit unkonventionellen Ideen die verkrusteten Strukturen Frankreichs aufzubrechen versuchte. „Revolution“hieß das Buch, in dem er sich für die Präsidentschaft empfahl. Doch nach sechs Jahren im Amt ist von der Reformdynamik des einstigen Hoffnungsträgers wenig übrig geblieben.
Die jetzt angepackte Rentenreform dürfte seine letzte große Chance sein.
Die „Mutter aller Reformen“war in Frankreich seit jeher der Gradmesser dafür, ob ein Präsident zu umwälzenden Veränderungen fähig ist. Denn das niedrige Renteneintrittsalter gilt als eine der großen sozialen Errungenschaften des Landes. Macron hatte schon 2019 versucht, das komplizierte Rentensystem mit 42 Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen zu reformieren. Damals wollte er die ungerechte Berechnungsgrundlage abschaffen, die Privatwirtschaft von öffentlichem Dienst trennt, und ein einheitliches Punktesystem einführen. Von dem ehrgeizigen Plan, den die Corona-Pandemie ausbremste, ist allerdings nicht viel übrig geblieben. Die nun vorgestellte Reform sieht vor allem eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vor, nachdem der Präsident im Wahlkampf noch von 65 Jahren gesprochen hatte. „Im Gegensatz zu Macrons erstem Reformvorhaben ist das kein Projekt, das eine gesamtgesellschaftliche Veränderung bedeutet“, analysiert der Politologe Bruno Cautrès. „Es reicht nicht, um seiner zweiten Amtszeit einen Sinn zu geben.“
Die Reform geht nämlich nicht viel weiter als ähnliche Initiativen seiner Vorgänger: Nicolas Sarkozy setzte das Eintrittsalter gegen massiven Widerstand auf der Straße um zwei Jahre von 60 auf 62 Jahre hoch und François Hollande erhöhte die Zahl der Beitragsjahre, die nötig sind, um in Rente zu gehen, auf 43.
Seine erste Amtszeit hatte Macron 2017 gleich mit einer ganzen Serie an Reformen begonnen. Anfangs schien dem jüngsten Staatschef der Fünften Republik auch alles zu gelingen. Die Bahnreform, die vielen großzügigen Ausnahmeregeln für Bahnangestellte ein Ende machte, wurde trotz wochenlanger Streiks verabschiedet. Parallel dazu wurde das Arbeitsrecht weiter liberalisiert, Kündigungen wurden erleichtert und die Mitsprache der Gewerkschaften in kleinen und mittleren Betrieben gestrichen. Macrons Rechnung ging auf: Die Unternehmen wagten wieder mehr Neueinstellungen und die Arbeitslosigkeit sank von 10,7 Prozent 2015 auf 7,3 Prozent.
Auf den Höhenflug folgte allerdings der Absturz. Im Herbst 2018 ging die aus dem Nichts aufgetauchte Bewegung der Gelbwesten gegen die Erhöhung der Ökosteuer auf Benzin auf die Straße. Sie wurden zum Zeichen des Bruchs zwischen einem als arrogant und abgehoben geltenden Staatsoberhaupt und seinem Volk, der bis heute nicht gekittet ist.
Die Spaltung des Landes hatte sich lange vor Macron angedeutet, doch schuld an der Brutalität des Phänomens war auch der Präsident selbst, der sich als Jupiter gottgleich das Land regieren sah. „Macron hat auf eine extreme Zentralisierung der Macht gesetzt, um seine Reformen
durchzusetzen“, bemerkt Joseph de Weck, Autor des Buches „Emmanuel Macron – Der revolutionäre Präsident“. Seit Charles de Gaulle, mit dem Macron sich gerne vergleicht, habe kein Präsident mehr so viel Macht vereint.
Im April gewann Macron zwar die Stichwahl um das Präsidentenamt mit 58,5 zu 41,5 Prozent gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen, doch es war ein glanzloser Sieg. Viele Wählerinnen und Wähler stimmten lediglich für ihn, um Le Pen zu verhindern. Dennoch ging der Staatschef nach seiner Wiederwahl gewohnt forsch die Rentenreform an, die zum zentralen Bestandteil seines politischen Erbes werden soll. Denn auch wenn Frankreich eine der höchsten Geburtenraten in Europa hat, droht der Rentenkasse bis 2030 ein Defizit von 13,5 Milliarden Euro. Die Ausgangssituation ist diesmal allerdings deutlich schlechter als bei Macrons erstem Versuch: Seit den Parlamentswahlen hat er nämlich in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit mehr und muss seine Vorhaben mühsam mit wechselnden Partnern durchsetzen.
Für die Rentenreform haben die Konservativen zwar bereits Zustimmung signalisiert. Doch massive Streiks und Proteste, die bereits mehr als eine Million Menschen auf die Straße brachten, könnten das Projekt noch stoppen.
Dass jüngst so viele Menschen gegen die Reform demonstrierten, überraschte auch die Regierung. Sie fürchtet ein Szenario wie 1995, als schon einmal eine Reform des Rentensystems abgesagt wurde, weil gut zwei Millionen Menschen dagegen protestierten. Der Präsident muss nun einen Weg finden, um den Widerstand zu schwächen. Im Gespräch sind Zugeständnisse bei der Mindestrente und ein Vorziehen des Eintrittsalters für alle, die früh zu arbeiten anfingen. Ob er damit die Wut besänftigen kann, ist nicht sicher. Die Gelbwesten und ihre Nachfolger haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Sie könnten die Erinnerung an Macrons Präsidentschaft mehr prägen als dessen Reformen.
„Macron hat auf eine extreme Zentralisierung der Macht gesetzt, um seine Reformen durchzusetzen“Joseph de Weck Buchautor