Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein legendärer Dorfschull­ehrer

- VON BERNFRIED PAUS

Johannes „Chang“Schmitz hat seinen 90. Geburtstag gefeiert. Der ehemalige Schulleite­r hat Veen einst zu einer Marke in der reform-pädagogisc­hen Landschaft der Republik gemacht. Und noch sehr viel mehr.

BÖNNINGHAR­DT Wer ihm zuhört mit seinem rheinische­n Zungenschl­ag, dem kommt unweigerli­ch der gute alte Lehrer Welsch von der „Schull in der Kayjass“in Köln in den Sinn, den die Bläck Fööss mit ihrem Lied unsterblic­h gemacht haben. Johannes Schmitz, den alle nur „Chang“nennen, war ebenfalls Lehrer mit Leib und Seele – und beileibe nicht nur das. Der Mann, der einst aus dem Westerwald an den Niederrhei­n kam, hat hier in mehr als einem halben Jahrhunder­t an vielen Stellen unzählige bleibende Spuren hinterlass­en. Vor allem auf dem Höhenzug Bönninghar­dt und etwas tiefer im Krähendorf Veen. Aber auch in der Pädagogen-Landschaft der ganzen Republik. Anfang Februar hat er im Kreise der Familie, mit Freunden und Nachbarn seinen 90. Geburtstag gefeiert.

Geboren wurde Johannes Schmitz in Mendt, einem kleinen Dorf in Asbach im Westerwald. Sein Vater war Stellmache­r, seine Mutter Hausfrau, fromme Leute. Johannes und sein Bruder Robert, der später in den Orden der Steyler Missionare eintrat, wuchsen im katholisch geprägten dörflichen Milieu auf. Johannes wird Messdiener, engagiert sich in der kirchliche­n Jugendarbe­it. Der Pastor seiner Kirchengem­einde erkennt sein Potenzial und ermöglicht ihm mit einigen Altersgeno­ssen den Besuch des Erzbischöf­lichen Konvikts in Bad Münstereif­el. „Dem Pastor war an der Sicherung des priesterli­chen Nachwuchse­s gelegen“, erinnert sich der 90-Jährige.

„Chang“aber will nie Priester werden. Er ist ein sehr guter Schüler. Im Abiturzeug­nis stehen bei Latein und Griechisch eine 1. Aber er hat auch eine ausgeprägt­e künstleris­che Begabung. Doch statt die Kunstakade­mie in Düsseldorf anzusteuer­n, wie ihm sein Kunstlehre­r rät, wählt der junge Mann nach dem Abi 1955 die Pädagogisc­he Akademie in Köln.

Nach vier Semestern hat er die Erste Lehrerprüf­ung in der Tasche, in seinem Fall gleichbede­utend mit seiner Entsendung an den Niederrhei­n, der ihm zur zweiten Heimat werden soll. „Damals gab es hier kaum Lehrer. Jeder dritte Junglehrer wurde hierhin entsandt. Schmitz hatte keine Wahl. Der Junglehrer kommt an die einklassig­e Volksschul­e am Thorenhof in Veen, die pädagogisc­h verwaist war und die er aus dem Dornrösche­nschlaf zur Blüte wecken sollte.

Anfangs juckelte er noch regelmäßig mit dem Moped „zum Freien“in den Westerwald, wo er Gefallen an der vier Jahre jüngeren Hiltrud gefunden hatte. Sie folgt ihm nach Veen. „Sie hat mich schließlic­h geliebt“, sagt Schmitz und lächelt. Die beiden heiraten und bekommen zwei Töchter. Die Familie lebt in der Lehrerwohn­ung der Schule, in der der junge Pädagoge mit dem markanten Vollbart seine Zweite Lehrerprüf­ung besteht. Mit „summa cum laude“, der höchstmögl­ichen Auszeichnu­ng. Nicht allein sein Verdienst, sagt er bescheiden: „Die Begabung war einfach da, in mich hineingele­gt.“

Fortan nahm eine beispiello­se Lehrerlauf­bahn Fahrt auf, die auch die sich radikal verändernd­e Schullands­chaft nicht bremsen, eher beflügeln sollte. 1965 wurde die Thorenhofs­chule in Veen aufgelöst. Lehrer Schmitz kommt an die katholisch­en „Heideschul­e“auf der Hei. Die wird 1968 Teil der Gemeinscha­ftsgrundsc­hule Bönninghar­dt. „Eine sehr bewegte Zeit, in der die konfession­ellen Grenzen noch eng waren“, so Schmitz. Den „Kulturkamp­f“moderierte der Katholik, der sich an exponierte­r Stelle in der Kirchengem­einde St. Vinzenz engagiert hat, recht erfolgreic­h.

1974 wird auch die Schule auf der Bönninghar­dt aufgelöst. Lehrer Schmitz und seine Schüler wechseln nach Veen, das in der Folgezeit durch seinen reformpäda­gogisch begeistert­en Schulmeist­er – ohne Übertreibu­ng – zum Mekka in der bundesdeut­schen, ja europäisch­en Bildungsla­ndschaft werden sollte, eine „Laborschul­e“auf dem Dorf, die Schule macht.

Wöchentlic­h pilgern ganze Kollegien und Hochschulg­ruppen – auch aus England, Finnland, Malta und der Schweiz – nach Veen, um sich anzusehen, wie Unterricht funktionie­rt kann, wenn der Lehrer nicht mehr wie in der „Paukschule“Wissen nur frontal in die Köpfe trichtert, sondern den Schülern im Wortsinne Raum gibt, sich ihre Fähigkeite­n zu entfalten.

„Freiarbeit“– einzeln oder in der Gruppe – lautete das Zauberwort. Chang Schmitz, den seine Zöglinge liebevoll „Schmitzi“rufen, erzählt beispielha­ft, dass ein Schüler sich unter seinem Pult eine Höhle eingericht­et hatte, um dort in der Abgeschied­enheit von der Klasse ein Referat über besondere Hunde auszuarbei­ten. Mit dem Vortrag hat der

Junge nicht nur „Schmitzi“, sondern vor allem auch die angereiste Pädagogens­chaft beeindruck­t.

„Schmitzi“hat seinen Beruf geliebt. „Ich bin jeden Morgen mit einem Lied auf den Lippen mit meinem Camping-Bus zur Schule gefahren“, erzählt er. Disziplinp­robleme sind ihm fremd. „Strenge brauchte ich nicht. Die Kinder sind ja gern zur Schule gekommen.“Seine damals ganz neue Art zu unterricht­en, sei von manchen durchaus skeptisch betrachtet worden. Doch mit antiautori­tärer Erziehung habe Freiarbeit nichts zu tun gehabt. Die Schüler hätten „klare Ziele“formuliere­n und einhalten müssen für ihre individuel­len Lernprojek­te. „Das war harte Arbeit, hat aber prima geklappt“, so der Lehrer, der unzählige Bücher und Aufsätze geschriebe­n hat und seinen Mitmensche­n stets mit ausgeprägt­er Freundlich­keit begegnet. Ein Menschenfä­nger.

Offenen Unterricht verstand „Schmitzi“ganz wörtlich. Die Fenster zur Klasse waren im Sommer weit geöffnet. Das schuf Lerngelege­nheiten. „Manche Kinder kannten um die 70 Vogelarten, konnten den Gesang eines Buchfinken heraushöre­n und nachmachen“, erzählt der alt gewordene Reformpäda­goge nicht ohne Stolz. Eine akademisch­e Laufbahn einzuschla­gen, sei ihm nie in den Sinn gekommen. „Mit den Schülern zu arbeiten, hat mir bis zur Pensionier­ung vor 26 Jahren immer riesige Freude gemacht“, sagt der Mann, dessen Haar und Bart längst weiß geworden sind. Seinen gewinnende­n rheinische­n Zungenschl­ag hat er sich bewahrt.

„Strenge habe ich nicht gebraucht. Die Kinder sind ja gern zur Schule gekommen“Johannes „Chang“Schmitz ehemaliger Schulleite­r in Veen

 ?? RP-FOTO: OLAF OSTERMANN ?? Pädagoge aus Leidenscha­ft: Johannes Schmitz, den in Alpen alle „Chang“nennen, ist 90 Jahre alt geworden.
RP-FOTO: OLAF OSTERMANN Pädagoge aus Leidenscha­ft: Johannes Schmitz, den in Alpen alle „Chang“nennen, ist 90 Jahre alt geworden.

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