Rheinische Post - Xanten and Moers
Vergeltung ist nicht das Ziel
Eine Richterin verteidigt ihr Urteil gegen neun junge Männer, die eine 15-Jährige auf einer Sommerparty vergewaltigt hatten. Viele halten die Strafen für zu gering. Das zeugt von Unwissen und Doppelmoral.
Es passiert selten, dass Gerichte Urteile von Strafprozessen kommentieren. Anne Meier-Göring, Vorsitzende der Jugendstrafkammer am Landgericht Hamburg, sah dafür aber offenbar die Notwendigkeit. Drei Monate nach der Urteilsverkündung in einem langwierigen Vergewaltigungsprozess, der bundesweit Aufmerksamkeit erregte, gab sie dem „Spiegel“ein ausführliches Interview. Es liest sich wie eine Lehrstunde über den deutschen Rechtsstaat und auch darüber, wie rechter Hass und digitale Hetze die Arbeit der Justiz erschweren.
Gewaltaufrufe gegen die Richterin
Am Ende habe AfD-Politiker Björn Höcke persönlich sie auf seiner Facebook-Seite zum Feindbild erklärt, sagt Meier-Göring, seit 25 Jahren Richterin in Hamburg, seit 15 Jahren im Bereich Jugendstrafrecht tätig. Weil fünf der zehn Angeklagten nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, rief der Fall früh reflexartig rechte Hetze auf den Plan. Diese gipfelte im Anschluss der Urteilsverkündung in unverhohlenen Gewaltaufrufen gegen die Richterin; sie möge doch hoffentlich selbst Opfer einer Vergewaltigung werden, war eine der Aussagen in sozialen Medien. Solche Reaktionen sind nicht nur ähnlich widerwärtig wie die Taten selbst, sie zeigen auch von einem groben Unverständnis darüber, wie die deutsche Justiz arbeitet und funktioniert. Mehr noch, sie müssen als Einschüchterungsversuche und versuchte Einflussnahme auf richterliche Entscheidungen gewertet werden.
Was wurde verhandelt? Im Spätsommer 2020, einem kurzen LockdownLichtblick, feiern an die hundert junge Menschen im Hamburger Stadtpark eine Party. Es gibt Musik, Alkohol und Corona-Kontrollen. Für eine damals 15-Jährige aber wird die Nacht zum Martyrium, deren Ablauf der Mammutprozess
später an 68 Verhandlungstagen mit fast 100 Zeugen und Sachverständigen zu rekonstruieren versucht. Am Ende steht fest: Das stark alkoholisierte Mädchen wird drei Mal vergewaltigt, an verschiedenen Orten des Parks, von verschiedenen Gruppen junger Männer, insgesamt zehn oder elf Beteiligte, die sich im Laufe des Abends zum Teil gegenseitig auf die 15-Jährige aufmerksam machen, die „alles mit sich machen lasse“. Es endet mit einem Polizeieinsatz, ausgelöst von einer Gruppe Mittzwanziger, die dem Mädchen später wohl helfen. Und mit vielen Fragen.
Die Urteile Obwohl es ein reiner Indizienprozess ist, gibt es am Ende klare Urteile. Für den jüngsten Angeklagten, damals 16, heute 19, hielt das Gericht eine Haftstrafe für zwingend nötig: zwei Jahre und neun Monate Jugendgefängnis. Er soll die treibende Kraft bei der ersten Vergewaltigung gewesen sein. Vier andere Angeklagte erhalten eine Bewährungsstrafe von bis zu zwei Jahren, vier weitere eine Vorbewährung. Das bedeutet, ihre Entwicklung wird über sechs Monate beobachtet, ehe endgültig über die Art der Freiheitsstrafe entschieden wird. Einen der zehn verbliebenen Angeklagten sprach das Gericht frei – seine DNA-Spuren waren nicht klar zuzuordnen. Spermaspuren von neun Männern konnten an der Kleidung des Opfers eindeutig ermittelt werden. Doch auch das ist nur ein Indiz. Beweise für Gewaltanwendung fehlten.
Im Zweifel für die Angeklagten?
Die Kernfrage im Umgang mit Sexualstrafrecht, so war es auch in diesem Prozess, dreht sich daher um das Selbstbestimmungsrecht. Waren die sexuellen Handlungen einvernehmlich, so wie die Verteidiger der Angeklagten argumentierten? In welcher Deutlichkeit hat es eine Ablehnung gegeben? Und selbst wenn die junge Frau zugestimmt haben mag, war sie mit den später nachgewiesenen 1,6 Promille überhaupt zurechnungsfähig? In allen Unwägbarkeiten löste sich das Gericht von einer strikten Anwendung des ehernen Grundsatzes „im Zweifel für die Angeklagten“. Es urteilte stattdessen im Sinne eines modernen Sexualstrafrechts – initiiert nach Bekanntwerden der „Me too“-Fälle. Seit November 2016 gilt: Gibt es geringste Zweifel an der Zustimmung einer Person, macht man sich mit sexuellen Handlungen strafbar. Auch der Begriff Vergewaltigung ist erweitert worden: Im Rechtssinne können sämtliche sexuelle Handlungen eine Vergewaltigung sein, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. Das kann jede Körperöffnung sein, auch der Mund, und das Eindringen muss nicht durch ein Geschlechtsorgan geschehen sein.
Vergeltung ist nicht das Ziel Dementsprechend hart sind auch die Angeklagten, die zum Tatzeitpunkt zwischen 16 und 20 Jahre alt waren, bestraft worden. Nach dem Jugendstrafrecht, dem sie demnach nun einmal unterliegen, sind Haftstrafen – auch auf Bewährung – schon das schärfste Schwert, vergleichbar mit Freiheitsstrafen im Erwachsenenstrafrecht. Den Opfern, die womöglich ihr ganzes Leben lang mit den Folgen solcher Taten zu kämpfen haben, kann das kaum gerecht werden. Es gehe aber bei den jungen Männern nicht primär um Sühne, sondern um Erziehung, betont MeierGöring. Bei einem der jungen Männer, der dennoch ins Gefängnis muss, glaubt das Gericht, dass er sich nur dadurch von weiteren Straftaten abhalten lässt. Bei allen anderen stehe die Aufarbeitung ihrer Taten im Vordergrund. Auch in der Zwischenzeit begonnene Maßnahmen wie (Drogen)-Therapien wurden im Sinne der Resozialisierung wohlwollend berücksichtigt. Das ist gut so, denn, so sagt es auch die Richterin, Vergeltung ist nicht das Ziel der Rechtsfolge, sondern vor allem, dass der jeweilige Angeklagte keine neuen Straftaten begeht. Das muss die Öffentlichkeit einerseits verstehen. Das Gericht andererseits besser kommunizieren – gerade in Jugendstrafprozessen, die nicht öffentlich verhandelt werden.