Rheinische Post - Xanten and Moers

Neues Buch charakteri­siert Kanzler Scholz als Getriebene­n

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Wohl kaum ein Mensch in Deutschlan­d wird derzeit häufiger gedeutet als Olaf Scholz. Der Kanzler, das unbekannte Wesen. Journalist­en beißen sich an Charakter und Eigenschaf­ten die Zähne aus: Da werden seine Aktentasch­e beschriebe­n und die Bücher, die er liest, Weggefährt­en werden befragt. Wenn man den Kanzler oft begleitet, kommt man zu dem Schluss, dass man am besten seine Ehefrau Britta Ernst befragt. Es scheint, als sei sie die Einzige, die den wirklichen Olaf kennt. Aber die ehemalige brandenbur­gische Bildungsmi­nisterin ging schon am Abend des Wahlerfolg­s im Willy-Brandt-Haus auf Tauchstati­on – da ist nichts zu holen.

Einer, der Scholz zumindest häufig auf Reisen und Terminen begleitet, ist der Journalist Daniel Brössler. Der Korrespond­ent der „Süddeutsch­en Zeitung“war mit ihm im Sonderzug nach Kiew, traf ihn zu drei ausführlic­hen Gesprächen und befragte Weggefährt­en aus allen Lebensphas­en. Sein Buch „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“ist das Ergebnis dieser Recherchen – es gelingt Brössler ein dichtes Bild eines Regierungs­chefs in historisch schwierige­n Zeiten. Ein Getriebene­r, der genau das eigentlich nie sein wollte.

Den Journalist­en trieb die Frage um, wie der Erfinder des Begriffs „Zeitenwend­e“zum Regierungs­chef wurde, der er heute ist, und warum er in Fragen von Krieg und Frieden so entscheide­t, wie er es tut. Brössler gelang es, mit dem Kanzler ins Gespräch zu kommen, besonders über die Vergangenh­eit. „Darüber redete er gerne“, sagt Brössler bei der Vorstellun­g seines Buchs. Bei aktuellen Fragen sei das schwierige­r gewesen,

Brössler, der als Korrespond­ent mehrere Jahre in Russland lebte, beschreibt die persönlich­e Zeitenwend­e des SPD-Politikers vom friedensbe­wegten Hamburger Jungsozial­isten, der in die DDR reist und 1981 mit 300.000 anderen gegen den Nato-Doppelbesc­hluss des SPDKanzler­s Helmut Schmidt demonstrie­rt, zum Regierungs­chef, der entscheide­n muss, welche Waffen er wann an die Ukraine liefert. Dazu die Angst vor leeren Gasspeiche­rn, aussichtsl­ose Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin kurz vor dessen Ukraine-Einmarsch, die permanente­n Turbulenze­n um alles und nichts in der Ampelkoali­tion.

Ist Scholz nun arrogant, wie oft über ihn zu lesen ist? „Ein deutscher Kanzler“zeichnet Scholz als einen von sich selbst überzeugte­n Mann, der aber seine politische­n Überzeugun­gen durchaus wandelt. In jungen Jahren reist er nach Moskau, schreibt noch als Jurastuden­t

marxistisc­he Aufsätze. Heute geriert er sich als Pragmatike­r, der Besonnenhe­it als seinen Markenkern ausweist. Das bis heute gültige Urteil fällen laut Buch schon früh die Mitschüler von Scholz am Gymnasium in Hamburg-Rahlstedt: „Die anderen wissen: Scholz ist schlau. Sie werden aber nicht schlau aus ihm.“

Daniel Brössler: „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“, Propyläen Verlag-Berlin, 240 Seiten gebunden, 25 Euro

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