Rheinische Post - Xanten and Moers
Neues Buch charakterisiert Kanzler Scholz als Getriebenen
Wohl kaum ein Mensch in Deutschland wird derzeit häufiger gedeutet als Olaf Scholz. Der Kanzler, das unbekannte Wesen. Journalisten beißen sich an Charakter und Eigenschaften die Zähne aus: Da werden seine Aktentasche beschrieben und die Bücher, die er liest, Weggefährten werden befragt. Wenn man den Kanzler oft begleitet, kommt man zu dem Schluss, dass man am besten seine Ehefrau Britta Ernst befragt. Es scheint, als sei sie die Einzige, die den wirklichen Olaf kennt. Aber die ehemalige brandenburgische Bildungsministerin ging schon am Abend des Wahlerfolgs im Willy-Brandt-Haus auf Tauchstation – da ist nichts zu holen.
Einer, der Scholz zumindest häufig auf Reisen und Terminen begleitet, ist der Journalist Daniel Brössler. Der Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“war mit ihm im Sonderzug nach Kiew, traf ihn zu drei ausführlichen Gesprächen und befragte Weggefährten aus allen Lebensphasen. Sein Buch „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“ist das Ergebnis dieser Recherchen – es gelingt Brössler ein dichtes Bild eines Regierungschefs in historisch schwierigen Zeiten. Ein Getriebener, der genau das eigentlich nie sein wollte.
Den Journalisten trieb die Frage um, wie der Erfinder des Begriffs „Zeitenwende“zum Regierungschef wurde, der er heute ist, und warum er in Fragen von Krieg und Frieden so entscheidet, wie er es tut. Brössler gelang es, mit dem Kanzler ins Gespräch zu kommen, besonders über die Vergangenheit. „Darüber redete er gerne“, sagt Brössler bei der Vorstellung seines Buchs. Bei aktuellen Fragen sei das schwieriger gewesen,
Brössler, der als Korrespondent mehrere Jahre in Russland lebte, beschreibt die persönliche Zeitenwende des SPD-Politikers vom friedensbewegten Hamburger Jungsozialisten, der in die DDR reist und 1981 mit 300.000 anderen gegen den Nato-Doppelbeschluss des SPDKanzlers Helmut Schmidt demonstriert, zum Regierungschef, der entscheiden muss, welche Waffen er wann an die Ukraine liefert. Dazu die Angst vor leeren Gasspeichern, aussichtslose Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin kurz vor dessen Ukraine-Einmarsch, die permanenten Turbulenzen um alles und nichts in der Ampelkoalition.
Ist Scholz nun arrogant, wie oft über ihn zu lesen ist? „Ein deutscher Kanzler“zeichnet Scholz als einen von sich selbst überzeugten Mann, der aber seine politischen Überzeugungen durchaus wandelt. In jungen Jahren reist er nach Moskau, schreibt noch als Jurastudent
marxistische Aufsätze. Heute geriert er sich als Pragmatiker, der Besonnenheit als seinen Markenkern ausweist. Das bis heute gültige Urteil fällen laut Buch schon früh die Mitschüler von Scholz am Gymnasium in Hamburg-Rahlstedt: „Die anderen wissen: Scholz ist schlau. Sie werden aber nicht schlau aus ihm.“
Daniel Brössler: „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“, Propyläen Verlag-Berlin, 240 Seiten gebunden, 25 Euro