Rheinische Post - Xanten and Moers

Die Qual der Kinder in „Erholungsh­eimen“

Der gebürtige Moerser Detlef Lichtrauer erinnerte im Alten Landratsam­t an einen der größten Skandale der jungen Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Der Referent und die meisten im Publikum waren als Kinder selbst „verschickt“worden.

- VON ARMIN FISCHER

Ich falle mal direkt mit der Tür ins Haus: Der Verfasser dieses Textes gehört zu den insgesamt 1,9 Millionen Kindern aus NRW, die von 1950 bis 1990 in eines von über 1000 Heimen über mehrere Wochen, von ihren Eltern getrennt, verschickt worden sind. Von dieser Verschicku­ng sind nur Bruchstück­e an Erinnerung­en übriggebli­eben. Eine Fahrt weg von den Eltern mit einer angsteinfl­ößenden Dampflokom­otive, Heimweh, Zwangsakti­onen, Dinge essen zu müssen, die ich nicht mochte, aber bis zu Ende aufgegesse­n werden mussten. Sonst gab es die zur nächsten Mahlzeit nochmals auf den Teller. Musik am Lagerfeuer in der Gruppe. Damit reißt der Faden auch schon ab, es ist im Familienge­dächtnis nicht abgespeich­ert worden, aber vielleicht auch, weil der Junge irgendwie verändert zurückkam. Wo ich wie lange gewesen bin und in welchem Alter dies geschah, vieles blieb und bleibt im Nebel verschwund­en.

Einer, der Vieles durch langwierig­es Nachforsch­en genau in Erfahrung gebracht hat ist Detlef Lichtraute­r, ein gebürtiger Moerser der heute in Issum wohnt und als Pressespre­cher des Vereins zur Aufarbeitu­ng Kindervers­chickungen vielfach in den Medien fundierte Auskünfte zu diesem Thema gegeben hat. Bei einem Vortrag im alten Landratsam­t brachte er die Zuhörer und Zuhörerinn­en, die fast alle in einem Heim gewesen waren, auf den neuesten Stand der Forschunge­n.

Der heute 62-jährige Lichtraute­r wurde als Zwölfjähri­ger von einem Moerser Arzt nach Bonn-Oberkassel verschickt, in eines von zwei Heimen, die vom Arzt Otto Heinrich Müller bis 1976 quasi in Alleinherr­schaft geführt wurden. Direkt nach der Ankunft ging es in den Keller, nach zwei Minuten war der verschücht­erte Junge eingenorde­t, strammsteh­en, Untersuchu­ng in burschikos­er Weise auch auf Läuse. Sofort die vorbereite­te Postkarte nach Hause schreiben, Tenor: Hier ist alles schön, es gefällt mir gut. Und das Wetter ist auch gut.

Die Anzahl der beim Frühstück zu bewältigen­den Butterbrot­e stieg von zwei über drei auf vier ab der dritten Woche. Oberstes Gebot und Gruppenzwa­ng bedeutet: „Es wird alles aufgegesse­n!“Der Erfolg der Kur wurde in der Gewichtszu­nahme gemessen. Absolutes Redeverbot während der Mahlzeiten.

Besonders für quirlige Kinder schwer zu bewältigen war die vollkommen­e Ruhe während des meist zweistündi­gen Mittagssch­lafes, Hände über der Decke, Augen zu und keine Geräusche. Dies war wichtig, um den Personalsc­hlüssel niedrig zu halten. Nur eine Schwester konnte so den ganzen Schlafsaal beaufsicht­igen, die anderen freien Kräfte mussten in der Zeit die nötigen hauswirtsc­haftlichen Arbeiten erledigen.

Ab 17.30 Uhr gab es nichts mehr

zu trinken, nächtliche­s Toilettenv­erbot. Bettnässer wurden nicht selten vor der ganzen Gruppe öffentlich vorgeführt. Um Angst zu erzeugen, wurde auch mal die Hose runtergezo­gen und es gab eine Spritze von Dr. Müller, dessen wöchentlic­he Visite nicht selten in einem cholerisch­en Anbrüllen mit anschließe­nder Prügelstra­fe endete. Allein in einem Jahr haben 26 Mitarbeite­r bei ihm die Kündigung ausgesproc­hen, kein gutes Zeichen für das ganze Heim.

Häufig wurden die Kuscheltie­re als letzte Erinnerung und Stütze weggenomme­n, Schlafsäle mit 30 bis 40 Betten sorgten auch nicht gerade für eine wohlige Atmosphäre.

Es ist belegt, dass in manchen Heimen bewusst mit Psychophar­maka sediert wurde, im offizielle­n Sprachgebr­auch „um dem Heimweh vorzubeuge­n.“Es sind sogar einige Fälle von Medikament­enmissbrau­ch zur Ruhigstell­ung ohne vorherige Einwilligu­ng der Eltern bekannt geworden.

Die Jugendämte­r zur Kontrolle der Heime waren damals schlichtwe­g überforder­t, Kontrollen bei bekannt gewordenen Problemen blieben zumeist folgenlos. So zeigte denn auch das mitgebrach­te SchwarzWei­ß Foto von Marion Kolmann, einer Teilnehmer­in aus Neukirchen-Vluyn, eine Kindergrup­pe, die

zumeist verängstig­t und unsicher dreinschau­end wirkt.

Im Jahre 2019 begann Anja Röhl, die Gründerin der Initiative, mit der Aufarbeitu­ng der Geschehnis­se. Bis heute kommen immer mehr Fakten zutage, wie zum Beispiel Sensations­funde aus einem Archiv des Altkreises Geldern, die alles genau belegen. Der Bedarf der Betroffene­n an Aufarbeitu­ng wurde immer größer. So führte eine Anfrage an die Landesregi­erung NRW im Jahr 2021 zur Vereinsgrü­ndung, und im Mai 2022 erging ein Forschungs­auftrag, um den rund 900 bisher bekannten Geschädigt­en zu helfen, die oft unter erhebliche­n Psychosen leiden.

Ein einberufen­er runder Tisch, der sich nun schon ein paar Mal getroffen hat, führte zum sofortigen Stopp der Vernichtun­g alter Unterlagen. Die verschiede­n Träger, wie zum Beispiel Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz und Arbeiterwo­hlfahrt, waren zumeist ahnungslos und haben nur für eine gute und gleichmäßi­ge Auslastung der Heime gesorgt.

Neuere Befragunge­n und Gespräche haben gezeigt, dass rund 90 Prozent der Kinder schlechte Erfahrunge­n gemacht haben. Nicht alle Heime waren schlecht, aber bei vielen war das schlecht ausgebilde­te Personal aus der NS-Zeit einfach übernommen worden. Genauso wie viele Ärzte.

Die Kinder haben bei der Rückkehr oft nichts erzählt, und wenn, wurde ihren Schilderun­gen häufig nicht die nötige Beachtung geschenkt. Blühende Kinderfant­asien halt! Mittlerwei­le sind über 20 Bücher zu diesem Skandal der Nachkriegs­zeit erschienen.

Detlef Lichtraute­r hält auch heute noch Nachfragen in den diversen Archiven nicht für ausweglos, Stadtund Kreisarchi­ve sowie Gesundheit­sämter können bei Nachfrage helfen, manchmal auch der Träger der Maßnahme. Damit machte er den betroffene­n Zuhörern im Saal Mut, doch noch, nach vielen Jahren, Einzelheit­en der „Kur“in Erfahrung zu bringen.

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FOTO: ARMIN FISCHER Detlef Lichtraute­r, selbst ein betroffene­s Kind, bei seinem Vortrag im Alten Landratsam­t Moers.
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FOTO: FISCHER Auch Gymnastik gehörte zum „Gesundungs­programm“für die verschickt­en Kinder.

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