Die Deutschen und ihr Dr.
DÜSSELDORF Natürlich ist ein Doktortitel mehr als ein akademischer Grad, natürlich umgibt ihn eine Aura. Dabei sind die zwei Buchstaben vor dem Namen zunächst nur dies: weltweit verstandenes Zeichen dafür, dass einer als Wissenschaftler Leistung erbracht und als Mensch ein gewisses Durchhaltevermögen bewiesen hat. Immerhin sitzt jeder Kandidat viele einsame Stunden in Bibliotheken, bohrt sich in ungeahnte Tiefen eines Sachgebiets, ringt darum, seine Gedanken auf viele Seiten Papier zu bringen, tritt am Ende mit klopfendem Herzen vor eine gewichtige Kommission und verteidigt seine Thesen. Mit der Disputation, der mündlichen Verteidigung seiner Arbeit, streift ein Studierender das Studentische ab, wird vom Lernenden zum jungen Kollegen, zwar noch unerfahren, aber ernst zu nehmen. Das ist ein Schritt.
Wer den akademischen Grad des Doktors erwirbt, zeigt, dass er mehr wissenschaftlichen Ehrgeiz hat als die Masse an Studierenden, die heute durch die Unis gespült wird. Und weil der Mensch die Neigung besitzt, sich von der Masse abzuheben, ist dieser Ausweis intellektueller Belastbarkeit so gefragt. Gerade in Deutschland mit seiner bildungsbürgerlichen Tradition werden andere Mittel, sich hervorzutun, skeptisch beäugt.
In den USA kann man beim Cocktail lächelnd erzählen, wie viel Geld man pro Woche verdient, und wird Anerkennung finden. In Deutschland ist es schicklicher zu erwähnen, dass Tochter oder Sohn gerade die Promotion abgelegt haben, möglichst an einer Uni, die seit Jahrhunderten besteht. Der Doktortitel ist ein Unterscheidungsmerkmal, auf das stolz zu sein sich niemand schämen muss, denn es wurde durch Leistung erworben. Darum hat dieser Titel auch all die Küss-die-Hand-Geheimrats-Namenszusätze früherer Zeiten überlebt. Er passt in die Leistungsgesellschaft, hat nichts parfümiert Feudales, sondern die pietistische Nüch- ternheit, die Deutschland vorangebracht hat.
Ein Vermögen kann man ergaunern, geprüfte wissenschaftliche Kompetenz nicht. Das galt lange, und es ist die absolut notwendige Voraussetzung für den Status des Doktors. Darum verteidigen jene, die ihn errungen haben, ihn auch so vehement vor Ehrgeizlingen wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Silvana Koch-Mehrin. Hausarbeiten kann man vielleicht zusammenschustern, um sein Studium effizient zu durchlaufen. Vor der Doktorarbeit muss solcher Pragmatismus haltmachen, denn die Dissertation ist nicht irgendeine lästige Pflicht auf dem Weg ins Berufsleben. Sie verlangt den Entschluss, diese Leistung erbringen zu wollen, davon kosten zu wollen, was Wissenschaft wirklich bedeutet.
Wer diese Mühen auf sich nimmt, darf das auch nach außen signalisieren. Das ist die Übereinkunft. Darum trägt man den Titel vor dem Namen, er wird zum Teil der Persönlichkeit, ein Stück der Biografie. Darum wohl kämpfen die Plagiatoren auch mit allen juristischen Finessen gegen die Überführung, auch wenn der Ruf längst ruiniert ist. Sie werden der Fälschung ihrer eigenen Biografie beschuldigt, das wiegt schwer, das verletzt das Ehrgefühl. Die Unis aber lassen Härte walten, so wie jetzt auch in der noch nicht entschiedenen Debatte um die Dissertation von Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Denn wenn der Doktortitel seine Integrität verliert, verliert er seine Seele. Er funktioniert nur als elitäres Gütesiegel.
Doch natürlich ist es das nicht allein. In Deutschland hängen am Doktortitel auch Vorstellungen, die von Faust und Doktor Faustus bis Professor Unrat reichen. Etwas Grüblerisches, Tiefsinniges, Gedankenschweres haftet diesem Namensvorsatz an, dazu die Vorstellung vom Gelehrten, der sein ganzes Dasein der Wissenschaft opfert – auch den Glauben, auch die Liebe. Das schlägt ihn mit Gefühlskälte oder macht ihn als alten Mann verführbar, lässt ihn zur tragikomischen Figur verkommen. Thomas Manns Tonsetzer Leverkühn oder Heinrich Manns Lehrer Raat mussten Bildungsbürger sein. Es braucht die Würde des Akademikers, um die nötige Fallhöhe für den Sturz solcher Figuren zu erreichen. Und wenn in Deutschland einer die Doktorprüfung ablegt, werden auch solche Romanfiguren lebendig. Dann sitzt auch Goethes Faust mit im Prüfungszimmer, der nun, ach, Philosophie, Juristerei, Medizin und leider auch Theologie studiert hat mit heißem Bemühn, Magister heißt, Doktor gar, und doch das Leben erst noch lernen muss.
Im enormen Ansehen des Doktortitels zeigt sich auch, dass die Deutschen noch immer einen gewissen Hang haben, Autoritäten zu ehren. Da verschmilzt dann mit dem akademischen Titel die Vorstellung vom anderen Doktor, dem der Medizin, dem Halbgott in Weiß. Ärzte besitzen naturgegeben großen Respekt bei allen, die nicht über heilsames Wissen verfügen. Im Zustand der Schwäche begegnet der Mensch dem Arzt, ist auf sein Urteil angewiesen, hofft auf dessen profundes Wissen – weil er am Leben bleiben will. So ist der Arzt der Doktor schlechthin geworden, der Gelehrte, dem Achtung gebührt, dem man sich respektvoll anvertraut.
Und dann gab es die populären Varianten, Klausjürgen Wussow als Schwarzwaldklinik-Chef etwa, väterlich, umsichtig, vertrauenswürdig. Auch sein Geist spukt, wenn in Deutschland das Wort Doktor fällt. Es ist kein Zufall, dass diese Fernsehserie hierzulande so überaus erfolgreich lief und all die Krankenhaus-Soaps nach sich zog, die bis heute die Zuschauer beglücken.
Der Doktor gilt in Deutschland auch als moralische Instanz. Ihm bei der Arbeit zuzusehen, scheint ein reineres Vergnügen, als etwa Polizisten bei der Verbrecherjagd zu beobachten. Deutschland ist ein Land, das sich über die Qualität seiner Produkte definiert. So wurde es Exportweltmeister. Und bislang galt das Made in Germany auch in akademischen Kreisen als verlässliches Etikett.
Dass dieser Nimbus durch die jüngsten Plagiatsfälle angegriffen ist, die Qualität des Doktors nicht mehr sicher scheint, ist eine Erschütterung, die sich ungut einreiht. Globalisierung, Finanzkrise, die Gewissheiten bröckeln. Wenn das Dünkel vertreibt, Autoritätsgläubigkeit erschüttert, hätte es etwas Gutes. Doch dauerhaften Zweifel am akademischen Niveau kann sich Deutschland nicht leisten.