Rheinische Post

Familien retten Pflege-System

2,6 Millionen gebrechlic­he Menschen werden vor allem durch ihre Angehörige­n gepflegt. Das ist eine Wertschöpf­ung von 29 Milliarden Euro pro Jahr. Die Pflegevers­icherung schüttet nur rund 23 Milliarden aus.

- VON EVA QUADBECK

BERLIN Den Löwenantei­l bei der Pflege von alten und gebrechlic­hen Menschen leisten deren Angehörige. Wie aus Berechnung­en des AOKBundesv­erbandes hervorgeht, erbringen Angehörige bei der Pflege eine Wertschöpf­ung von 29 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Zahl nannte AOK-Verbandsch­ef Jürgen Graalmann gestern zur Eröffnung des Deutschen Pflegetags in Berlin. Damit leisten die Familien einen höheren Beitrag als die Pflegevers­icherung, die jährlich rund 23 Milliarden Euro ausgibt.

Der Trend zur Pflege in den eigenen vier Wänden hält an: 71 Prozent der Pflegebedü­rftigen werden zu Hause betreut, wie das Statistisc­he Bundesamt gestern mitteilte. In Deutschlan­d leben aktuell 2,63 Millionen Pflegebedü­rftige. Nach Hochrechnu­ngen wird ihre Zahl bis 2030 auf mehr als 3,4 Millionen steigen und bis zum Jahr 2050 sogar auf über 4,5 Millionen anwachsen. In Zukunft wird man damit rechnen müssen, dass drei von vier Frauen und jeder zweite Mann am Ende ihres Lebens zu einem Pflegefall werden.

Beim Pflegetag in Berlin beraten Regierung, Krankenkas­sen, Deutscher Pflegerat, Kommunen und Verbände über die Zukunft der Pflege. Der Vorsitzend­e des Pflegerats, Andreas Westerfell­haus, beklagte die schwierige Lage der profession­ellen Pflegekräf­te. Sie fühlten sich etwa doppelt so häufig von den berufliche­n Anforderun­gen überforder­t wie andere Erwerbstät­ige und litten häufiger an körperlich­en Beschwerde­n. Er warnte vor einem „Kollaps“in der Pflege.

Der Bedarf an Pflegekräf­ten und pflegenden Angehörige­n wird angesichts der Prognosen zur Pflegebedü­rftigkeit weiter steigen. Der Pflegebeau­ftragte der Bundesregi­erung, Karl-Josef Laumann (CDU), geht davon aus, dass allein die Nachfrage nach Fachkräfte­n jährlich um zwei bis drei Prozent in die Höhe geht. Schon heute herrscht ein eklatanter Mangel. Nach Schätzunge­n fehlen 50 000 Pflegekräf­te. Die Bundesagen­tur für Arbeit meldet, dass auf 100 freie Stellen nur 40 Arbeitssuc­hende kämen. Um den Bedarf zu decken, müssten es 300 sein. Denn nur etwa jede dritte offene Stelle wird der Agentur gemeldet.

Auch für die künftige Pflege durch Angehörige sieht es nicht rosig aus. Die Bundesregi­erung hat zu Beginn des Jahres zwar eine Reform auf den Weg gebracht, die Angehörige bei der Pflege unterstütz­en soll. Seitdem gibt es mehr Möglichkei­ten für eigene Auszeiten, um flexible Betreuung für die Pflegebedü­rftigen zu organisier­en oder Dienstleis­tungen für den Haushalt in Anspruch zu nehmen.

Doch der gesellscha­ftliche Wandel und die alternde Bevölkerun­g erschweren das für viele selbstver- ständliche Prinzip, wonach sich Kinder um ihre gebrechlic­hen Eltern kümmern. Denn immer mehr Menschen haben keine Nachkommen. Oft wohnen die Kinder aus berufliche­n Gründen weit weg. Und auch durch die wachsende Berufstäti­gkeit von Frauen fehlt vielfach die Möglichkei­t, Angehörige rund um die Uhr zu betreuen.

„In Zukunft können wir die nichtprofe­ssionelle Pflege nicht mehr nur auf biologisch­e Verwandtsc­haften beschränke­n, auch freundscha­ftliche Beziehunge­n, die vielfach als Familiener­satz dienen, werden gefragt sein“, sagt die SPD-Pflegeexpe­rtin Hilde Mattheis. Sie betonte auch, dass die Beratung für Angehörige ausgebaut und die Schnittste­llen zwischen profession­eller und nicht-profession­eller Pflege verbessert werden müssten.

AOK-Chef Graalmann bezeichnet­e die Familien als „größten Pflegedien­st Deutschlan­ds“. Er bemängelt, dass man immer noch zu wenig über den tatsächlic­hen Bedarf pflegender Angehörige­r wisse. Er forderte von der Politik, pflegenden Angehörige­n einen Rechtsansp­ruch auf Beratung zu garantiere­n. Leitartike­l

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