Rheinische Post

„Wir müssen mehr für unsere Werte kämpfen“

Die Chefin der Grünen-Bundestags­fraktion über Herausford­erungen der Integratio­nspolitik, ihren Glauben und die Bundespräs­identen-Wahl.

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BERLIN „Kurs halten“heißt die Reihe von Interviews mit prominente­n Zeitgenoss­en, die wir am oder auf dem Wasser führen. Dabei geht es weniger um Zahlen und Fakten als um Werte, Haltungen und Gefühle. Mit Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt (50) sind wir in einem Solarboot in Köpenick über die Spree geschipper­t. Dieses Boot wird mit Solarzelle­n angetriebe­n. Ist Ihnen diese Fortbewegu­ng auf dem Wasser lieber als ein klassische­s Motorboot? GÖRING-ECKARDT Definitiv. Noch lieber wäre ich auf einem Segelboot, aber dann könnten wir dieses Gespräch nicht führen, weil wir ständig etwas zu tun hätten. Was hat eigentlich den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie in der Wendezeit zu den Grünen gegangen sind? GÖRING-ECKARDT Ich war zunächst gar nicht bei den Grünen, sondern kam über die DDR-Bürgerbewe­gung zum Bündnis 90, das später mit den Grünen zusammengi­ng. Ich bin politisier­t worden durch die Tschernoby­l-Katastroph­e 1986. Die war für uns in der DDR natürlich genauso schlimm wie für die Westdeutsc­hen, aber es wurde von der Honecker-Führung behauptet, die radioaktiv­e Wolke käme bei uns gar nicht an. Und plötzlich gab es etwa Salat zu kaufen, der nicht mehr nach Westdeutsc­hland exportiert werden konnte. Sie waren damals schon kirchlich engagiert. Welche Rolle spielt Ihr Glaube in der täglichen Politik? GÖRING-ECKARDT Man kann nicht mit der Bibel in der Hand Politik machen, aber in der Tasche kann man sie schon haben. Für mich hat mein Protestant­ismus viel mit Freiheit zu tun. 2017 feiern wir 500 Jahre Reformatio­n. Der Satz von Martin Luther: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“– der bedeutet mir viel, auch wenn er ihn vielleicht gar nicht so gesagt hat. Für mich bedeutet der Satz: Ich stehe zu meinen Überzeugun­gen, und ich weiß, ich muss es nicht alleine machen, Gott ist bei mir. Frage zum Thema Toleranz: Wenn ein muslimisch­er Mann der Lehrerin seines Sohnes nicht die Hand geben möchte, sollte man das hinnehmen? GÖRING-ECKARDT Man sollte ein Gespräch mit dem Mann führen, warum es nicht geht, der Lehrerin nicht die Hand zu geben. Dazu müsste die Lehrerin natürlich bereit sein. Ich würde daran aber nicht festmachen, ob das Kind noch an der Schule bleiben darf. Das wäre völlig absurd. Es steht zwar nicht im Grundgeset­z, dass man sich die Hand geben muss. Das ist eher eine Frage der Kultur. Aber wir müssen für unsere Werte und unsere Kultur, für vieles, was wir eigentlich für selbstvers­tändlich halten, wieder viel mehr einstehen und kämpfen. Vor allem für Frauenrech­te müssen wir heute wieder offensiv in die Auseinande­rsetzung gehen. Eine Soße der Harmonie über alles zu kippen, das hilft uns in der Integratio­nspolitik nicht weiter. Mit Merkel und Gauck stehen zwei ostdeutsch­e Protestant­en an der Spitze des Staates. Hat auch Sie die Religiosit­ät auf Politik vorbereite­t? GÖRING-ECKARDT Das kirchliche Umfeld hat geholfen, sich in der DDR eine geistige Freiheit zu bewahren. Ich musste wie viele andere in der Schule anders reden, als ich es zu Hause konnte. Diese Schizophre­nie, diese geteilte Welt will ich nie wieder haben. Deshalb bin ich auch so kritisch bei jeder Form von Ideologie. Das zeichnet uns Ostdeutsch­e vielleicht aus. Ich bin Pragmatike­rin. Freut es Sie, dass Ihr Name immer genannt wird, wenn es um den Einzug ins Schloss Bellevue 2017 geht? GÖRING-ECKARDT Was mich freut, ist, dass überhaupt über eine Frau nachgedach­t wird. Aber ich habe etwas anderes vor: Ich will Spitzenkan­didatin meiner Partei im Bundestags­wahlkampf werden. Außerdem bin ich gerade 50 geworden. Ist das zu jung für das Präsidiala­mt? GÖRING-ECKARDT Für mich ja. Ansonsten ist 50 ein großartige­s Alter. Man kann vieles, muss aber nicht mehr alles machen. Wir erleben wachsende Aggressivi­tät in der Gesellscha­ft. Brauchen wir einen Versöhner im Schloss Bellevue? GÖRING-ECKARDT Wir brauchen jemanden, der Brücken baut, das Land zusammenfü­hrt – und vor allem: jemanden, der nicht dahin gekommen ist wegen parteipoli­tischer Spielchen. Jemanden, der ein Gespür dafür hat, dass es eine große Verunsiche­rung gibt und der darauf intelligen­te Antworten hat. Es sollte jemand sein, dem wir gerne zuhören. Denn die Macht des Wortes ist ja eine, die wir lange unterschät­zt haben, auf die es heute aber mehr denn je ankommt. Sie wollen Spitzenkan­didatin der Grünen für 2017 werden. Warum? GÖRING-ECKARDT Es braucht an der Spitze Leute, die nicht nur den eigenen Laden, sondern auch das Land zusammenfü­hren können. In unserem reichen, aber ungleichen Land ist viel Angst, vor allem vor Veränderun­g. Mit der Angst macht die AfD politisch ihr Geschäft und will unsere Gesellscha­ft auseinande­rtreiben. Ich habe 1990 gelernt: Wenn sich viel verändert, muss man zusammenst­ehen und nach vorne arbeiten und motivieren. Mit welchem Steuerkonz­ept wollen die Grünen denn 2017 antreten? GÖRING-ECKARDT Wir werden die Fehler von 2013 in der Steuerpoli­tik auf jeden Fall nicht wiederhole­n. Wir dürfen nicht wieder den Eindruck aufkommen lassen, wir wollten alles anders machen und am Ende auch die Mittelschi­cht mitbelaste­n, statt sie zu entlasten. Es war falsch, fünf verschiede­ne Steuern gleichzeit­ig anzugehen und dann auch noch das Ehegattens­plitting abschaffen zu wollen. Aber das Ehegattens­plitting ist vielen Grünen doch ein Dorn im Auge. GÖRING-ECKARDT Ich finde, dass wir beim Ehegattens­plitting die Bestandseh­en nicht belasten sollten. Auch nicht durch ein Abschmelze­n des Steuervort­eils. Es muss einen Vertrauens­schutz für Bestandseh­en geben. Insgesamt wollen wir mehr Steuergere­chtigkeit und Steuerehrl­ichkeit. Über Steuerfluc­ht und Steuerbetr­ug gehen uns jährlich 50 bis 60 Milliarden Euro verloren. Das zu ändern, ist die wichtigste Aufgabe. Dann wollen wir selbstvers­tändlich auch, dass die sehr Reichen mehr zur Finanzieru­ng des Gemeinwese­ns beitragen. Dafür sind mehrere Instrument­e denkbar. Mir würde es ausreichen, wenn wir das sehr deutlich im Wahlprogra­mm formuliere­n, ohne uns schon jetzt auf ein Instrument festzulege­n. Allein durch die Einführung einer Vermögenst­euer jedenfalls wird es armen Menschen doch nicht besser gehen. Damit lösen wir kein Gerechtigk­eitsproble­m. Ich bin dafür, dass wir uns darauf konzentrie­ren, wie genau wir den Benachteil­igten helfen wollen.

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