Vielleicht mag ich dich morgen
Ich habe keinen Grund, mich zu schämen!“, antwortete Anna. „Doch, habe ich, nur dass ich im Moment zu beschwipst zum Schämen bin.“„Das gibt’s doch nicht – Liebesromane von Mills & Boon?“, rief James aus, als er die Reihe schmaler scharlachroter Buchrücken in Augenhöhe entdeckte.
„Ich liebe Mills & Boon“, entgegnete Anna. „Und ich weigere mich, das als meine heimliche Sünde zu bezeichnen.“
„Ja, ist ja auch mehr Qual als Sünde“, erwiderte James.
Er griff nach einem Band und drehte ihn um. „Die Geliebte des Gutsherrn. Sie würde das Bett mit ihm teilen, aber niemals seinen Namen tragen! Uff. Die wilde Nora.“
„Das ist die historische Reihe. Die wilde Nora ist aus der pikanteren Serie Heat von Mills & Boon.“
„Ha, ha. Ich kapier es trotzdem nicht. Du bist klug und amüsant. Doch diese Bücher sind alles andere als klug.“
„Dafür aber amüsant“, meinte Anna.
James verzog zweifelnd das Gesicht. Er stellte Die Geliebte des Gutsherrn zurück ins Regal, deponierte sein Weinglas auf dem Kaminsims und nahm das nächste Buch zur Hand. Er blätterte durch die Seiten und las laut vor.
„Lord Haselmeres grausamer Blick bohrte sich in Taras bebenden jungen Körper, so dass sie sich fühlte wie von einer glühenden Lanze durchbohrt. Zweimal bohren. Wer lektoriert denn diesen Mist? Sie spielte zwar die keusche Jungfrau, war aber nichts weiter als eine Hexe! Am liebsten hätte er sie mit sich geschleppt wie ein plündernder Wikinger seine Beute. Doch diese Beute war eine Lady, die er nie zu seiner Frau würde machen können. Aber sei’s drum. Er musste tun, was jeder heißblütige Mann tun würde, wenn er einem solchen Geschöpf gegenüberstand. Zum Teufel mit der Last des Adelstitels und seines gewaltigen Erbes. Gewaltiges Erbe, ach herrje. Verdammt, er war und blieb ein Mann und brauchte, was ein Mann brauchte. O Gott, was für ein Satz. Zieh die Bluse aus, knarzte er. Knarzte, ha, ha, ha. Wie knarzt man denn? Ich versuche es noch mal. Zieh die Bluse aus!“
Als James den Satz mit dunkler, belegter Stimme wiederholte, musste Anna so heftig lachen, dass ihr die Tränen aus den Augenwinkeln traten.
„Okay, das ist echt amüsant, so viel muss ich dir lassen“, sagte James. „Obwohl ich lange vor dem Schluss den Spaß daran verlieren würde. Was finden Frauen nur so toll an Liebesromanen? Eva hat nie auf Blumen, Pralinen und diesen ganzen Mädchenkram gestanden. Doch kurz bevor sie ihre Tage gekriegt hat, hat sie sich mit Hingabe diese schrecklichen Filme reingezogen, in denen ein Typ einem Greyhound-Bus in den Sonnenuntergang hinterherrennt, um einer Frau zu erklären, dass sie ihn zu einem besseren Menschen macht. Was ist daran so reizvoll?“
„Ist das eine echte Frage oder eine rhetorische?“
„Eine echte. Ich würde es gern verstehen. Und danach könnte ich mich vielleicht verpflichtet fühlen, dir Hilfe zu besorgen.“
„Wenn du dich nicht darüber lächerlich . . .“Anna zog ein verbeultes, fleckiges Samtkissen auf ihren Schoß und drückte es an sich. „Es ist der Höhepunkt – nein, du machst jetzt keine schmutzige Bemerkung – , die große Geste in der Schlusssze- ne. Genau damit verdient die Romantikbranche ihr Geld. Im Alltag bekommt man keine Liebeserklärungen. Es fallen ein paar Andeutungen, man trinkt sich einen an, landet im Bett, und irgendwann wird es zur Gewohnheit. Ich finde es wunderschön, wenn der Held einer Frau all die Dinge sagt, die sie in Wirklichkeit nie zu hören kriegen wird.“
James nickte. „Halt mich in deinen Armen, oder so?“
„Ja. Ach, du weißt schon. Etwas, das Sinn ergibt. Es muss darum gehen, weshalb sie für ihn so etwas ganz Besonderes ist. Und dann findet sie endlich heraus, dass all ihre großen Gefühle erwidert werden.“
Anna konnte unmöglich hinzufügen, dass dieser Wunsch bei ihr vermutlich einen bestimmten Grund hatte. Immerhin hatte es in ihrem Leben eine Zeit gegeben, in der es allen peinlich gewesen wäre, auch nur im Gespräch mit ihr beobachtet zu werden.
„Und nach seinen wundervollen Worten schließt er sie in seine männlichen Arme, küsst sie und trägt sie in sein Schloss, um es ihr richtig zu besorgen.“
„Ich glaube, das Schloss ist das wichtigste Element in diesen Phantasien“, meinte James. „Ihr Mädels sehnt euch alle nach einer Mischung aus Bernie Ecclestone und dem Torso der Woche in Men’s Health. Ich sehe hier keine Titel wie Der lüsterne Landstreicher.“
„Drittes Buch von rechts“, erwiderte Anna und zeigte aufs Regal. „Ja, wahrscheinlich liegt es an dieser krankhaften Geschlechterrollenkonditionierung, dass ich nie jemanden kennenlerne“, fuhr sie leicht bedrückt fort. „Meine Erwartungen sind einfach zu hoch.“
„Nein, der Grund ist, dass die meisten Männer Idioten sind. Ich wäre nicht gerne eine Frau oder schwul . . . Das sollte eigentlich der große Moment werden, in dem ich mich als neuer Mann oute, doch ich glaube, es ist nicht richtig rübergekommen.“Beide kicherten beschwipst. Anna fragte sich, ob ihr Kühlschrank irgendwelche vorzeigbaren Esswaren enthielt. „Äh . . .?“James zog das Lesezeichen aus dem Mills & Boon-Roman in seiner Hand. Der Flyer einer Praxis für Schönheitschirurgie. Und um auch nicht den geringsten Zweifel an ihren Absichten offenzulassen, hatte Anna Datum und Uhrzeit darauf gekritzelt. Ein Beratungstermin, den sie später abgesagt hatte.
„O nein! Schau das bloß nicht an!“, kreischte sie. Eigentlich hätte das die ultimativ peinliche Situation sein müssen, und dennoch war Anna nur fünfundzwanzigprozentig verlegen. Die restlichen fünfundsiebzig Prozent amüsierten sich darüber, wie beklagenswert komisch das Ganze war. Ihr Alkoholpegel half dabei. James legte den Flyer zurück in den Einband.
„Seltsames Wetter in letzter Zeit, findest du nicht?“
Beide brachen wieder in Gelächter aus.
„Da jammere ich, weil ich keinen Freund habe, und habe ein Mills & Boon-Buch mit Werbung für Schönheitsoperationen im Regal stehen. O Gott . . .“Anna krümmte sich und keuchte vor Lachen. Sie drückte sich ein Kissen vor den Mund. „Als Nächstes kriegst du das Bett mit den elf Teddybären zu sehen.“
(Fortsetzung folgt)