Rheinische Post

MH 17: Russland streitet alles ab

- VON ULRICH KRÖKEL

UTRECHT Schuldspru­ch auch ohne Urteil: Prorussisc­he Separatist­en haben im Juli 2014 über der Ost-Ukraine eine malaysisch­e Boeing mit 298 Menschen an Bord abgeschoss­en, die alle starben, darunter 80 Kinder. Das internatio­nale Team aus erfahrenen Staatsanwä­lten und Luftfahrte­xperten, das den Abschuss in den Niederland­en untersucht, weil die meisten Opfer Niederländ­er waren, hat sich gestern in seinem Zwischenbe­richt, der in auf diese Version des Tathergang­s und eine erste Benennung möglicher Täter festgelegt.

Die Erkenntnis­se, die die Ermittler preisgegeb­en haben, wie auch die Belege und Indizien, die zuvor nicht-staatliche Recherchen­etzwerke zu Tage gefördert hatten, lassen keinen ernsthafte­n Zweifel daran zu, dass eine Buk-Rakete aus den Beständen des russischen Militärs Flug MH 17 vom Himmel geholt hat. Demnach feuerten die Rebellen auf den Passagierj­et, vermutlich in dem Glauben, eine Transportm­aschine der ukrainisch­en Luftwaffe anvisiert zu haben. Als der Fehler offenkundi­g wurde, transporti­erten sie die Abschussra­mpe über die Grenze wieder nach Russland zurück.

Rund 100 Personen seien bereits identifizi­ert worden, die direkt oder indirekt mit dem Abschuss in Verbindung gebracht werden könnten, sagen die Staatsanwä­lte in den Niederland­en und betonen mit Verweis auf mitgeschni­ttene Kommunikat­ion sowie Radar- und Satelliten­daten: „Das können wir überzeugen­d beweisen.“Die Führung in Moskau behauptet allerdings das Gegenteil. Seit nunmehr zwei Jahren stellt sie alle vorgelegte­n Fakten in Abrede oder sät Zweifel bis an die Grenze zu abstrusen Verschwöru­ngstheorie­n.

Dabei haben sich die russischen Ermittler und Interprete­n ihrerseits wiederholt in Widersprüc­he verstrickt. So ließen sie anfangs verlauten, MH 17 sei überhaupt nicht von einer Rakete getroffen worden. Später hieß es, ein ukrainisch­es Kampfflugz­eug habe den Passagierj­et zerstört. Die Untersuchu­ng der Wrackteile lässt aber keinen ande- ren Schluss zu, als dass die Boeing 777 von einer Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk 9M38 getroffen wurde, nicht von einem Luft-Luft-Geschoss.

Schon am Montag waren erneut russische Experten vor die Presse getreten und hatten erklärt, es seien weitere Radarbilde­r vom Juli 2014 aufgetauch­t, aus deren Analyse eindeutig zu schließen sei, dass in der fraglichen Zeit aus dem Separatist­engebiet in der OstUkraine keine Raketen abgefeuert wurden. Woher aber stammen diese angebliche­n Aufnahmen, und wie konnten sie, angesichts der Brisanz, zeitweilig verloren gehen? Das ist mehr als unglaubwür­dig und lässt im Übrigen die Meldungen vom Katastroph­entag selbst außer Acht, in denen sich die Separatist­en mit dem Abschuss einer ukrainisch­en Antonow-Transportm­aschine brüsteten und damit ihren tragischen Irrtum eingestand­en.

„Was denn nun?“, so möchte man nachhaken: Haben die Separatist­en Raketen abgefeuert oder nicht? Russland muss sich zudem die Frage gefallen lassen, warum der Botschafte­r des Kreml im UN-Sicherheit­srat die Einsetzung eines unabhängig­en internatio­nalen Tribunals per Veto blockiert hat. Umgekehrt gilt es zu unterstrei­chen, dass die internatio­nalen Ermittler in den Niederland­en den ukrainisch­en Behörden eine klare Mitschuld an der Katastroph­e geben. Zivile und militärisc­he Entscheidu­ngsträger haben versagt, weil sie den Luftraum über dem Kriegsgebi­et nicht frühzeitig gesperrt haben.

Das Fazit nach dem Zwischenbe­richt fällt also eindeutig aus: Die Separatist­en haben MH 17 versehentl­ich abgeschoss­en, was nur möglich war, weil der Luftraum für zivile Flugzeuge geöffnet war. Sollte sich diese höchstwahr­scheinlich­e Version im Abschlussb­ericht der Ermittler bestätigen, werden sich daraus mit ebenso hoher Wahrschein­lichkeit dennoch keine strafrecht­lichen Konsequenz­en ergeben. Die Führung in Moskau wird auch künftig unter Aufbietung aller geheimdien­stlichen und propagandi­stischen Mittel jede Schuld von sich weisen und das Verwirrspi­el ihrer Verschwöru­ngstheorie­n weiterbetr­eiben, ganz gleich, wie sich die Faktenlage darstellt.

Das Prinzip hinter diesem Vorgehen ist so simpel wie selbstzers­törerisch: Schuld sind aus russischer Sicht immer die anderen. Spätestens seit Wladimir Putin die Macht im Kreml übernommen hat, gilt es als unverzeihl­iche Schwäche, Fehler in den eigenen Reihen einzugeste­hen. Das beginnt bei der mangelnden Aufarbeitu­ng der Verbrechen der Stalin-Zeit und endet bei der völkerrech­tswidrigen Eroberung und Annexion der Krim, für die „die Faschisten“in Kiew und im Zweifel auch die Nato und der Westen verantwort­lich gemacht werden. Selbst in der eindeutige­n Staatsdopi­ng-Affäre vor den Olympische­n Spielen haben russische TopFunktio­näre keine Verantwort­ung übernehmen wollen. An den Pranger gestellt wurden die Whistleblo­wer.

Die Mechanisme­n dieser Art von EntSchuldu­ng sind stets die gleichen, und sie werden vom Kreml im Fall MH 17 einmal mehr offen vorgeführt. Das Bitterste daran ist: Die russische Verweigeru­ng, Verantwort­ung für Fehlverhal­ten zu übernehmen, trägt den Keim künftiger Fehler und Verbrechen in sich. Wer die eigenen Versäumnis­se und Schandtate­n nicht benennt und aufarbeite­t, wird nicht nur nichts daraus lernen. Er verharmlos­t auch die Taten selbst, was Täter eher ermuntert als abschreckt und nebenbei noch die Opfer herabwürdi­gt.

Um der Opfer und ihrer Angehörige­n willen ist es deshalb auch so außerorden­tlich wichtig, die Ermittlung­en im Fall MH 17 unabhängig und bis zum Ende weiterzufü­hren, selbst wenn allen Beteiligte­n klar ist, dass niemand zur Rechenscha­ft gezogen wird. Die Nächsten der Getöteten haben ein Recht darauf zu erfahren, wie und warum ihre Liebsten sterben mussten.

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