Rheinische Post

Gauck ermahnt bei seinem Ukraine-Besuch Russland

75 Jahre nach der Ermordung von mehr als 30.000 Juden in Babi Jar besucht der Bundespräs­ident den Ort des Schreckens.

- VON EVA QUADBECK

KIEW Es ist ein schwerer Gang für Bundespräs­ident Joachim Gauck zur Schlucht Babi Jar nahe Kiew. Vor 75 Jahren ermordeten die deutschen Besatzer hier an der wenige Hundert Meter langen und zehn Meter tiefen Schlucht in zwei Tagen mehr als 30.000 Kiewer Juden. Gemeinsam mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Petro Poroschenk­o und mit EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk will Gauck dort ein Zeichen der Erinnerung an die Opfer setzen.

In seiner zehnminüti­gen emotionale­n Ansprache beschreibt er den Massenmord durch die Deutschen am Beispiel eines Einzelschi­cksals: Esther, deren Urenkelin Katja Petrowskaj­a den Gang ihrer Ahnin in den Tod in einem Buch nachzeich- nete. Das Erinnern gehört seit der Wende zum Leben des Joachim Gauck. Als Chef der Stasiunter­lagen-Behörde und als Vorsitzend­er des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“war er auch schon vor seiner Präsidents­chaft als Mahner unterwegs. Empathisch und persönlich solle die Erinnerung sein, forderte Gauck stets an solchen Orten, an denen die Nazis Gräueltate­n begangen hatten. Wie nun bei Esther: „Die Einzigarti­gkeit des Verbrechen­s, dem sie zum Opfer fallen sollte, bestand nicht zuletzt darin, dass fast niemand die Bestialitä­t der Täter und den Zivilisati­onsbruch, zu dem sie bereit waren, für möglich hielt“, sagt er. Als ein Mann, der noch im Krieg geboren wurde, sieht Gauck es als seine Aufgabe an, immer wieder an die Taten der Nazis zu erinnern. Der Bundespräs­ident kommt an die Orte, über die die Nazis Tod und Unmenschli­chkeit gebracht hatten. Er kommt als einer, der das andere Deutschlan­d repräsenti­ert. Als deutscher Präsident stehe er an der Schlucht in Babi Jar, „immer wieder fassungslo­s und voller Trauer angesichts der monströsen Verbrechen anderer Deutscher in einer anderen Zeit“.

Was Ende September 1941 geschah: Die deutschen Besatzer riefen die Juden von Kiew auf, sie sollten sich zu einer Evakuierun­g sammeln. Wer dem nicht Folge leiste, werde erschossen. Der ganz überwiegen­de Teil, vielfach Alte, Frauen und Kinder, folgte dem Aufruf. Die mehr als 30.000 Menschen wurden aus der Stadt hinausgetr­ieben zur Schlucht Babi Jar. Dann folgte eine Gräueltat, die Babi Jar zum Symbol der Mordaktion­en der Deutschen auf ihrem Vernichtun­gsfeldzug im Osten werden ließ und die wie Auschwitz symbolisch für die systematis­che Ermordung der Juden in Konzentrat­ionslagern steht. In zwei Tagen erschossen Angehörige der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS 33.771 Menschen und warfen die Toten in die Schlucht von Babi Jar. Auch danach blieb der Ort noch Hinrichtun­gsstätte, bis die Nazis begannen, die Spuren ihres Massenmord­s zu verwischen.

Doch Gauck richtet nicht nur den Blick zurück. Er schaut auch auf die Ukraine heute und mahnt deren territoria­le Integrität an, die mit der Annexion der Krim durch die Russen 2014 verletzt wurde. Den Ukrainern stehe heute und auch in Zu- kunft ein Platz in der Familie der Völker zu, „als souveräne Nation in einem Staat, dessen territoria­le Integrität zu achten ist“. Und noch etwas ist bemerkensw­ert. Er weist die Ukrainer darauf hin, dass auch sie noch Vergangenh­eit aufzuarbei­ten haben. Im gemeinsame­n nationenüb­ergreifend­en Erinnern sieht er eine Chance der Völkervers­tändigung. Die in Babi Jar Getöteten seien Juden, Ukrainer, Russen und Polen gewesen. „Wir, die wir verstehen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Väter und Großväter zu Mördern und Opfern wurden, sind heute aufeinande­r angewiesen.“Zuvor hatte Poroschenk­o darauf hingewiese­n, dass es auch unter den Ukrainern Kollaborat­eure gegeben hatte, die mit den deutschen Besatzern zusammenar­beiteten. Ein Thema, das in der Ukraine Jahrzehnte totgeschwi­egen wurde.

Gauck schließlic­h plädiert für eine grenzüberg­reifende Forschung, die der Versuchung widersteht, die Wahrheit durch das Prisma der Nation zu suchen.

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Gauck mit seinen Kollegen aus Ungarn und der Ukraine, János Áder und Petro Poroschenk­o (v.l.), in Babi Jar.

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