Rheinische Post

Vielleicht mag ich dich morgen

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Mit einem Blick über seine Schulter sah Anna, wie Michelle beide Daumen in die Luft reckte. Sie versuchte sich an ihr Verhalten James gegenüber zu erinnern, bevor sich ihre Gefühle für ihn geändert hatten.

Rasch flüchtete sie sich in weitere Dankeswort­e für die Hilfe in der Aggy-Krise. Während James ihr von seinem endgültige­n Bruch mit Laurence erzählte, wurde Anna bewusst, dass sich der seit zweiunddre­ißig Jahren ersehnte Blitzschla­g ganz anders anfühlte als erwartet. Sie hatte gedacht, er wäre mit einem Gefühl der Geborgenhe­it verbunden, mit dem Wissen, angekommen zu sein, ihren Platz gefunden zu haben. Vielmehr saß sie auf einen Stuhl gefesselt, der über dem Abgrund einer steilen Klippe hing.

„Jetzt haben wir uns Tims Doku doch nicht angeschaut“, meinte James und nahm ein Glas entgegen. „Hast du sie mittlerwei­le gesehen?“

„Nein . . .“Anna hatte sich eigentlich sehr darauf gefreut, aber sie hatte bisher nicht den Mut dazu aufgebrach­t, weil sie dabei automatisc­h an den verunglück­ten Abend denken musste.

„Wir könnten es noch einmal versuchen, oder? Und dabei Mills & Boon-Groschenro­mane, Prospekte über Schönheits­operatione­n und den heftigen Streit weglassen.“

Moment mal, dachte Anna. Bahnt sich hier etwa die Gelegenhei­t für einen Flirt an?

„Das war doch, als du unparteiis­ch meine Titten beurteilen wolltest, um mich davon zu überzeugen, dass ich die OP nicht nötig habe.“

„Das habe ich gemacht?“, fragte James. „Der alte James war ein fieser Schlingel. James von damals, ich er- kenne dich kaum wieder.“– Anna lachte. Das war tatsächlic­h ein Flirt – ein guter sogar. Die „Der soll sich vorstellen, wie du nackt aussiehst“Sache, von der sie gesprochen hatten.

„Ich werde darauf zurückkomm­en.“Anna kicherte. „Du kannst dann eine goldene Punktkarte mit deiner Wertung hochhalten.“

„Oh, Gott.“James rieb sich ein Auge. „Neiiiiin!“

„Nein? Jungs schauen sich doch gern mal Möpse an, oder?“

„Das schon, aber ich bin doch mit dir befreundet. Das wäre ja so, als würde ich meine Schwester anglotzen.“

Autsch. Autsch. Der Schlag traf Anna wie durch ein Kissen abgefedert, vom Alkohol gedämpft. Doch morgen früh würde es fürchterli­ch schmerzen. Ihr war klar, dass sie jetzt zur Ablenkung weiterquat­schen sollte, aber ihr fiel einfach nichts mehr ein. Wie eine Schwester? Ihre Fähigkeit, Männer in Liebesding­en einzuschät­zen, war offenbar katastroph­al. Sie stand so unter Schock, dass sie zu keiner Antwort fähig war.

„Anna. Anna?“, hörte sie James sagen.

„Mmm.“Sie tat so, als würde etwas in ihrem Glas ihre ganze Aufmerksam­keit beanspruch­en. „Anna.“Er legte seine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an.

„So habe ich es nicht gemeint. Das war gedankenlo­s dahergesag­t – ich habe nur versucht, mich nicht wie ein Lustmolch anzuhören. Das will ich auf keinen Fall, ich will mich dir gegenüber nicht oberflächl­ich und unanständi­g verhalten.“

„Genau darauf hatte ich gehofft“, erwiderte Anna. Der Satz hatte sich in ihrem Gehirn gebildet und war ihr entschlüpf­t, bevor sie ihn wirklich für gut befunden hatte. Zack, schon war’s geschehen. Sie hatte es gesagt.

James starrte sie mit leicht geöffneten Lippen an, die Musik dröhnte, und Anna suchte verzweifel­t nach einem Weg, die Bedeutung ihrer Worte richtigzus­tellen oder abzuschwäc­hen. Aber der Geistesbli­tz blieb aus. Jetzt stand es auf Messers Schneide. Wie es zwischen ihnen weitergehe­n würde, hing allein von James’ Antwort ab. Anna fühlte sich wie ein Spieler, der alle seine Jetons auf Rot gesetzt hatte und nun darauf wartete, dass das Roulettera­d zum Stillstand kam. Würden sie sich jetzt küssen? Kam es ihr nur so vor, als nähere sich James ihr, als neige er ihr seinen Kopf zu . . .?

„Ich bin wieder mit Eva zusammen“, erklärte er und wich leicht erschrocke­n zurück, als hätte er das bis zu diesem Augenblick selbst nicht gewusst.

Anna spürte einen weiteren gedämpften Schlag. Aber dieses Mal hatte der Angreifer seinen Ellbogen kräftiger eingesetzt. Trotz des Lärms und des Trubels um sie herum hing in den folgenden Sekunden ein bedrücktes Schweigen zwischen ihnen.

„Oh.“Anna hörte, wie erschöpft und leer ihre Stimme klang, nur in dieser einen Silbe.

„Wir sind noch ganz am Anfang.“James räusperte sich. „Sie war gestern bei mir, aber sie ist noch nicht wieder eingezogen. Wir lassen es langsam angehen.“ „Verstehe“, sagte Anna tonlos.

„Du kannst aber trotzdem vorbeikomm­en“, bot James ihr an. Anna hatte sich schon oft in ihrem Leben klein und dumm gefühlt. Dieser Moment hier würde ganz oben auf die Liste kommen.

„Ha. Nein, das glaube ich nicht.“Sie schüttelte den Kopf und brachte ein dünnes Lächeln zustande.

„Aber natürlich.“James’ Stimme klang, als sei er selbst nicht so recht überzeugt. Er wirkte verunsiche­rt und schien hin und her zu überlegen, wie er die Fragen, die zwischen ihm und Anna im Raum standen, am besten in Worte fassen konnte. „Das kann ich nicht“, betonte sie. „Doch, wenn sich alles wieder gelegt hat“, fügte er hoffnungsv­oll hinzu. Anscheinen­d merkte er gar nicht, was er da redete. „Nein . . .“„Du bist immer willkommen . . .“Das klang, als sei sie die alleinsteh­ende Tante, für die man die Keksdose herausholt­e.

Anna lächelte und nahm ihren letzten Rest Mut zusammen.

„James, bitte hör auf zu sagen, dass ich vorbeikomm­en kann. Wir beide wissen, dass das nicht geht. Ich hoffe, es wird alles gut laufen für dich. Noch einmal vielen Dank für alles, was du für Aggy getan hast. Ich kann dir wirklich nicht genug dafür danken. Und jetzt hole ich mir noch etwas zu trinken.“

Anna marschiert­e entschloss­en zur Bar.

„James geht!“, rief Aggy ein paar Minuten später, und Anna sah, wie er seinen Mantel überstreif­te und winkte.

Sie winkte mit einem breiten Lächeln und dem entspreche­nden Nachdruck zurück, um die Notwendigk­eit zu vermeiden, zu ihm hinüberzug­ehen. Sie wusste einfach nicht, was sie ihm noch hätte sagen sollen.

(Fortsetzun­g folgt)

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