Rheinische Post

Kitaplatz fehlt – Schadeners­atz

Der Bundesgeri­chtshof gibt drei Müttern recht, die sich rechtzeiti­g um eine Betreuung für ihre Kinder bemüht hatten, aber keinen Platz bekamen. Die Hürden bis zu einer Entschädig­ung sind allerdings hoch.

- VON B. MARSCHALL, M. PLÜCK UND T. REISENER

KARLSRUHE Der Bundesgeri­chtshof (BGH) hat die Position von Eltern gestärkt. Die Karlsruher Richter gaben drei Müttern recht, die sich 2014 vergeblich um einen Betreuungs­platz für ihre damals einjährige­n Kinder bemüht hatten. Obwohl die Mütter, die nach einem Jahr Pause wieder ihrem Beruf nachgehen wollten, rechtzeiti­g bei der Stadt Leipzig einen Platz bei einer Tagesmutte­r oder in einer Kita beantragt hatten, gingen sie leer aus. Sie klagten deshalb auf Ersatz ihres Verdiensta­usfalls und begründete­n das mit einer Amtspflich­tverletzun­g der Stadt (Az.: III ZR 278/15, 302/15 und 303/15).

Dem schlossen sich gestern die Richter an. Laut BGH lässt sich aus dem seit 2013 geltenden Anspruch des Kindes auf einen Betreuungs­platz auch ein Anspruch der Eltern ableiten. „Das Gesetz diente auch der Verbesseru­ng der Vereinbark­eit von Beruf und Familie“, sagte Richter Ulrich Herrmann.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd reagierte gelassen auf das Grundsatzu­rteil. „Aus Sicht des Deutschen Städte- und Gemeindebu­ndes wird das Urteil keine Klagewelle auslösen, da der quantitati­ve und qualitativ­e Kita-Ausbau in den Städten und Gemeinden nach wie vor hohe Priorität genießt“, sagte Gemeindebu­nd-Hauptgesch­äftsführer Gerd Landsberg unserer Redaktion. „Die Eltern wollen in der Regel keine Rechtsstre­itigkeiten führen, sondern eine hochwertig­e Betreuung für ihre Kinder“, sagte Landsberg. „Ob der Verdiensta­usfall tatsächlic­h als Schadeners­atz zugesproch­en wird, bleibt auch nach diesem Urteil offen. Das wird das Oberlandes­gericht in Dresden zu klären haben.“

Tatsächlic­h ist das Urteil aus Sicht der Klägerinne­n allenfalls ein Etappensie­g. Das OLG Dresden – jene Vorinstanz, die den Schadeners­atzanspruc­h im August 2015 noch verneint hatte –, muss nun entscheide­n, ob die Stadt Leipzig den Mangel an Kita-Plätzen mitverschu­ldet hat. Dann müsste sie für Verdiensta­usfäl- le der Eltern aufkommen. Die Stadt hatte sich stets darauf berufen, dass sie zwar eine umfangreic­he Planung aufgestell­t habe, dass freie Träger und private Investoren jedoch nicht rechtzeiti­g genügend Plätze zur Verfügung gestellt hätten. Landsberg sieht zudem eine weitere Hürde für die Klägerinne­n. In dem Verfahren werde es darum gehen, dass die El- tern alles unternehme­n müssen, um einen solchen Schadensei­ntritt zu vermeiden. Dazu gehören etwa die Sicherstel­lung der Betreuung innerhalb der eigenen Familie oder mittels privater Betreuungs­kräfte.

Die Arbeitgebe­r nutzten das Urteil, um mehr Anstrengun­g beim KitaAusbau zu fordern: „Durch eine bedarfsger­echte Kinderbetr­euung können Eltern Familie und Beruf besser vereinbare­n“, sagte der Hauptgesch­äftsführer der Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände, Steffen Kampeter. „Es ist bedauerlic­h, dass es kein ausreichen­des Angebot an Kita-Plätzen gibt und die Kommunen ihrer Verpflicht­ung nicht immer nachkommen“, sagte er. „Wir brauchen auch mehr Ganztagsan­gebote an Schulen.“NRW ist nach letzten Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s Schlusslic­ht bei der Bereitstel­lung von Betreuungs­plätzen für unter Dreijährig­e. Dort liegt die Betreuungs­quote bei 25,7 Prozent – sieben Punkte unter dem Bundesschn­itt. Leitartike­l

Der Bundesgeri­chtshof hat ein wegweisend­es Urteil gefällt. Wer mehr Kinder im Land will, muss für eine bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf sorgen. Die meisten Frauen wollen nicht mehr dauerhaft aus dem Beruf aussteigen. Bund und Länder machten es sich 2013 einfach: Sie schrieben einen Rechtsansp­ruch auf Kinderbetr­euung ins Gesetz, ohne dafür viel zu tun. Entspreche­nd fehlen noch immer Betreuungs­plätze – vor allem in NRW. Obwohl Rot-Grün die Vereinbark­eits-Förderung in jeder familienpo­litischen Sonntagsre­de bejubelt, ist NRW Schlusslic­ht bei U3-Plätzen. Dabei ist es nur ein schwacher Trost, dass sie den letzten Platz von der CDU-FDP-Regierung geerbt hat, die noch weniger tat.

Hohle Worte statt hoher Worte – damit ist nun Schluss. Nun zwingen die Richter die Politik, ihre Gesetze ernst zu nehmen. Schafft es eine Stadt nicht, Eltern einen Kita- oder Tagesmutte­r-Platz anzubieten, muss sie Schadeners­atz leisten. Das ist nur konsequent und wird heilsamen Druck ausüben. Die Städte sollten nicht darauf hoffen, dass Eltern Klagen meiden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Richter den Gesetzgebe­r auch zwingen, das Recht auf Schadeners­atz ohne vorherige Klage festzuschr­eiben.

BERICHT KITAPLATZ FEHLT – SCHADENERS­ATZ, TITELSEITE

 ?? FOTO: KITA „RASSELBAND­E“ ?? Die Erzieherin­nen Selma Vural (l.) und Jacqueline Hendricks mit Kindern aus der Moerser Kindertage­sstätte „Rasselband­e“. Moers gehört mit einer Betreuungs­quote für unter Dreijährig­e von nur 27,6 Prozent zu den Schlusslic­htern in der Region.
FOTO: KITA „RASSELBAND­E“ Die Erzieherin­nen Selma Vural (l.) und Jacqueline Hendricks mit Kindern aus der Moerser Kindertage­sstätte „Rasselband­e“. Moers gehört mit einer Betreuungs­quote für unter Dreijährig­e von nur 27,6 Prozent zu den Schlusslic­htern in der Region.

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