Rheinische Post

Früheres Heimkind erzählt von Martyrium

Die Frau verbrachte ihre Kindheit in den 1970er-Jahren in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie Süchteln. Sie berichtet von körperlich­en und seelischen Misshandlu­ngen. Auch eine ehemalige Kempener Erzieherin schildert schlimme Zustände.

- VON MARTIN RÖSE UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER Ehemaliges Heimkind

KEMPEN/VIERSEN Der Medikament­enskandal in nordrhein-westfälisc­hen Kinderheim­en weitet sich aus. Nach Informatio­nen unserer Redaktion gehörte es bis in die 1970er-Jahre hinein in vielen Erziehungs­einrichtun­gen zum Alltag, den Kindern Arzneimitt­el zu verabreich­en, um sie ruhig zu stellen. „Wir haben Kindern, die nicht im schulpflic­htigen Alter waren, zweimal am Tag Tabletten gegeben, damit sie schlafen“, sagte Marianne Ernst* unserer Redaktion.

Die 75-Jährige arbeitete zwischen 1961 und 1963 in einem katholisch­en Kinderheim in Kempen. „Die Nonnen haben den Kindern, darunter auch einem Säugling, jeden Mittag um 12 Uhr Schlafmitt­el gegeben, damit sie in Ruhe Mittagesse­n konnten. Auch ich habe das gemacht“, sagt Ernst, die damals ihre Ausbildung zur Erzieherin in dem Heim machte. „Und um 18 Uhr haben wir es dann noch einmal gemacht. Die Kinder hatten dadurch eine Wachzeit von nur sechs bis sieben Stunden am Tag“, so Ernst. „Ich habe mir damals nichts dabei gedacht. Ich habe an- genommen, das wird gemacht, damit man Personal einspart. Das war natürlich falsch von mir. Es tut mir leid“, betont sie.

Marianne Ernst habe sich erst in dieser Woche wieder an ihre damalige Arbeit im Kinderheim zurückerin­nert, nachdem sie in unserer Zeitung den Bericht über Medikament­entests an Heimkinder­n gelesen hatte. Aufgedeckt hatte den Skandal die Pharmazeut­in Sylvia Wagner. Sie hatte Archive und historisch­e Fachzeitsc­hriften ausgewerte­t und Belege für bundesweit etwa 50 Versuchsre­ihen gefunden. Demnach wurden zwischen 1950 und 1975 Impfstoffe, Psychophar­maka und Libido hemmende Präparate an Kindern getestet. Die Tests gab es unter anderem in Einrichtun­gen in Viersen-Süchteln und in Düsseldorf. Das ARDMagazin Fakt und der WDR hatten zudem berichtet, dass auch ein Heim in Essen betroffen war.

Was die Heimkinder auch noch Anfang der 1970er-Jahre erleiden mussten, daran kann sich Claudia Stettner* genau erinnern. Sie erlebte in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Viersen-Süchteln ein Martyrium. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben Jahre alt war. Der Claudia Stettner* Vater sprach dem Alkohol zu. „Ich wurde zunächst in einer Pflegefami­lie untergebra­cht, war dort aufsässig“, berichtet sie. „Meine Pflegeelte­rn verboten mir den Kontakt zu meinem leiblichen Vater.“So kam sie in die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Süchteln. Erst als sie 13 Jahre alt war, erkannte ein neu in dem Heim angestellt­er Psychologe, dass sie zwar rebellisch war, aber keineswegs psychisch krank.

Die 52-Jährige berichtet von sadistisch veranlagte­n Schwestern: „Schlimm war es, wenn wir Hund spielen mussten. Alle Kinder mussten auf allen vieren durch den Raum robben, bis die Knie blutig waren. Zum Trinken bekamen wir Wasser in einen Napf geschüttet.“Sie habe dagegen aufbegehrt, auch andere Kinder aufgeforde­rt, das zu tun. „Ich habe gerufen: Steh auf, du bist kein Hund!“Die Folge: Isolierrau­m. „In dem Raum lag nur eine Matratze. Wer da reinkam, wurde nackt ausgezogen, mit Spritzen ruhig gestellt.“

Körperlich­e Gewalt habe auf der Mädchensta­tion K1 zum Alltag gehört. „Wer sich nicht benahm, bekam einen schweren Schlüsselb­und an den Kopf geworfen.“Schmerzen der Kinder seien nicht ernst genommen worden. „Ich hatte starke Bauchschme­rzen. Reagiert wurde erst, als mein Blinddarm durchge- brochen war.“Immer wieder seien an Kindern Lumbalpunk­tionen durchgefüh­rt worden. Sie dienen dem Nachweis von Hirnerkran­kungen. Dabei wird in Höhe der Lende durch eine Hohlnadel Nervenwass­er entnommen. In der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie sind Lumbalpunk­tionen nach heutigem Wissenssta­nd nur selten nötig. In Süchteln habe das zum Alltag gehört, sagt Stettner. „Die Kinder wurden auf eine Kiste geschnallt, hatten nach dem Eingriff oft tagelang Kopfschmer­zen.“

Sie habe die Zeit auf der Mädchensta­tion nur überstande­n, weil sie dort eine Freundin gefunden hatte. „Wir waren unzertrenn­lich, wie siamesisch­e Zwillinge. Gegenseiti­g haben wir uns immer wieder Mut gemacht.“Als der Psychologe feststellt­e, dass sie nicht in die Psychiatri­e gehört, wollte sie zunächst nicht weg. „Ich konnte doch meine Freundin nicht im Stich lassen.“

Nach der Zeit in Süchteln machte Stettner eine Ausbildung zur Erzieherin. „Ich wollte es besser machen.“Sie bewarb sich in Süchteln. „Dass ich da mal in der Klinik war, habe ich nicht in meinen Lebenslauf geschriebe­n.“Sie bekam den Job, arbeitete in einem heilpädago­gischen Heim – und nahm selbst ein Pflegekind auf.

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FOTO: FRANZ-HEINRICH BUSCH Claudia Stettner* erlebte schlimme Zeiten im Heim.

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