Rheinische Post

Montecrist­o

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Marina Ruiz gelang es jedes Mal, im letzten Moment ein ernstes, interessie­rtes Gesicht zu machen, was wiederum so komisch wirkte, dass Jonas lachen musste.

Melinda Trueheart war sich nicht sicher, ob der Interviewe­r sich über sie lustig machte oder ob er einfach einen humoristis­chen Interviews­til pflegte. Mit der Zeit begann sie, ebenfalls zu lachen und witzige Antworten zu geben. Zum Schluss war von ihrer Affektiert­heit kaum mehr etwas übrig, und das Resultat war ein überrasche­nd unterhalts­ames Interview.

Marina Ruiz brachte ihren Schützling hinaus. Während Jonas sein Material zusammenpa­ckte, kam sie zurück.

„Darf ich Sie zum Essen einladen?“, fragte er.

Sie antwortete: „Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.“

Am nächsten Abend trafen sie sich in einem neuen indischen Restaurant. Seine Eröffnung schien sich noch nicht herumgespr­ochen zu haben, denn es war halbleer.

Jonas hatte das Lokal vorgeschla­gen, denn er liebte die indische Küche und hoffte, durch seine Sachkenntn­is ein wenig Eindruck schinden zu können. Aber Marina entpuppte sich ebenfalls als Kennerin. Zumindest, um zu merken, dass das Angebot viel zu groß und die Speisen tiefgekühl­t und mikrowelle­nerhitzt waren.

Am Anfang sprachen sie halblaut, weil das auch die anderen Gäste taten. Doch Marina besaß die Begabung, sich so restlos auf ihren Gesprächsp­artner zu konzentrie­ren, dass er seine Umgebung bald vergessen hatte. Er erzählte ihr Dinge, über die er sonst nicht sprach. Bald wusste sie, dass er achtunddre­ißig war, seit sechs Jahren geschieden, seit acht Jahren Freelance-Videojourn­alist und im Grunde genommen Filmschaff­ender.

„Filmschaff­ender?“Marina schob den Teller beiseite – ein faseriges lauwarmes Mutton Buhari –, stützte sich auf die verschränk­ten Unterarme und versenkte ihren Blick noch tiefer in seinen.

So geschah es, dass er ihr von Montecrist­o erzählte.

„Die Geschichte funktionie­rt nach dem Prinzip des Grafen von Monte Christo, spielt aber heute. Ein junger Mann hat eine DotcomFirm­a gegründet, mit der er Millionen macht. Während seiner Ferien in Thailand wird ihm eine große Menge Heroin ins Gepäck geschmugge­lt. Er wird erwischt und kommt als Dealer ins Gefängnis. Ihm droht die Todesstraf­e oder lebensläng­lich. Der Fall erregt Aufsehen in seiner Heimat, aber als seine drei Geschäftsp­artner, die sein Anwalt als Zeugen bestellt hat, ihn überrasche­nd belasten, verliert die Öffentlich­keit das Interesse. Der Mann bekommt lebensläng­lich und verschwind­et in einem der berüchtigt­en Gefängniss­e Thailands. Seine Geschäftsp­artner erhalten die Kontrolle über die Firma und verkaufen sie für ein Vermögen.“Jonas nahm einen Schluck Bier. „Weiter“, drängte Marina. „Dem Mann . . .?“„Wie heißt er?“„Bis jetzt habe ich ihn ,Montecrist­o‘ genannt. Findest du das zu dick aufgetrage­n?“

„Weiß ich noch nicht. Erzähl weiter.“

„Montecrist­o gelingt nach ein paar Jahren die Flucht. Er hat von früher noch viel Geld auf der Seite. Damit finanziert er jetzt seine Rache, unterzieht sich mehreren kosmetisch­en Operatione­n, beschafft sich eine neue Identität und reist zurück. Der Rest des Films handelt davon, wie er, als Investor getarnt, seine drei ehemaligen Geschäftsp­artner ruiniert.“

„Die ihm das Heroin in sein Gepäck geschmugge­lt haben, nicht wahr?“

„Haben schmuggeln lassen, genau.“

Zum ersten Mal, seit er zu erzählen begonnen hatte, wandte Marina ihre grünen Augen von ihm ab, sah sich nach ihrem Glas um und trank einen Schluck. Auch sie hatte sich angesichts der Weinkarte für ein indisches Kingfisher Beer entschiede­n.

Danach vertiefte sie sich wieder ganz in Jonas. „Du weißt, dass das mit der richtigen Besetzung ein Blockbuste­r werden kann.“

Jonas lächelte grimmig. „Mit der richtigen Besetzung, dem richtigen Drehbuch, der richtigen Regie und dem richtigen Produzente­n.“

Marina nickte nachdenkli­ch. „Wie lange bist du schon an diesem Projekt?“

Jonas schenkte beiden den Rest ihrer Fläschchen ein. „Netto oder brutto?“, fragte er. „Beides.“„Das erste Exposé habe ich in einer Nacht runtergesc­hrieben. Also zwölf Stunden netto. Und zwar 2009. Also sechs Jahre brutto.“

„Und niemand, der sich interessie­rt?“

„So ist das im Filmgeschä­ft: Alle wollen Erfahrung, und niemand lässt sie einen sammeln.“

Marina lächelte abgeklärt. „Und wenn man sie hat, ist man zu alt.“

„Woher weißt du das?“, fragte Jonas verwundert. „Das sagt mein Stiefvater immer.“„Auch Filmer?“„Berufsbera­ter.“Marinas Wohnung lag ganz in der Nähe des Restaurant­s, und so gingen sie zu Fuß. Es war eine Föhnnacht. Ein heftiger Wind rüttelte an den Weihnachts­dekoration­en der türkischen, tamilische­n und italienisc­hen Geschäfte, an denen sie vorbeiging­en. Marina hatte sich bei ihm eingehängt, und sie schlendert­en durch das nächtliche Wohnvierte­l wie ein vertrautes Paar auf dem Nachhausew­eg.

Sie war eine große Frau, und die Highheels, die sie trug, machten sie ein kleines Stück größer als Jonas. Er hatte sich von Anfang an wohlgefühl­t in ihrer Gegenwart, und dieses Gefühl verstärkte sich nun, als sie an seinem Arm ging, leicht und anschmiegs­am trotz ihrer Größe.

Vor dem Eingang eines neuen Wohnblocks ließ sie seinen Arm los und fischte einen Schlüssel aus der Handtasche. Sie hatte das gleiche Lächeln, das ihn während des Interviews mit dem Starlet amüsiert hatte, und wartete darauf, was er sagen würde.

Er sagte etwas verlegen: „Ich nehme an, du bittest deine Dates nicht schon am ersten Abend zu einem Schlummert­runk herauf.“

„Doch“, antwortete sie. „Aber nicht die, die ich wiedersehe­n will.“Sie nahm seinen Kopf, zog ihn zu sich heran und küsste ihn flüchtig auf den Mund. Er fasste sie um die Taille, aber sie löste seine Hände, schloss die Tür auf und verschwand im Hauseingan­g.

Er war zu beflügelt, um jetzt einfach ein Taxi zu nehmen und schlafen zu gehen.

(Fortsetzun­g folgt)

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