Rheinische Post

Die Helden von Budapest

Beim Ungarn-Aufstand im Herbst 1956 erhob sich ein ganzes Volk gegen die Herrschaft der Sowjets – die diesen blutig niederschl­ugen.

- VON GODEHARD UHLEMANN

DÜSSELDORF Vor 60 Jahren hielt die Welt den Atem an. Der Beginn des ungarische­n Volksaufst­andes am 23. Oktober 1956 gegen die menschenve­rachtende Sowjetdikt­atur war ein Kampf für Freiheit und Unabhängig­keit in einem starren Gefüge aus Gewalt, Entmündigu­ng und persönlich­er Erniedrigu­ng. Der Aufstand war keine Tagesepiso­de, er zog sich wochenlang hin. Doch der zarte Keim der Freiheit, der damals durch den Boden des harten politische­n Alltags drängte, war nicht überlebens­fähig: Am Ende siegte der brutale militärisc­he Unterdrück­ungsmechan­ismus à la Moskau.

Bei dem Aufstand kamen nach offizielle­n Angaben 2500 Ungarn und 700 sowjetisch­e Soldaten um. Andere Quellen sprechen von weit höheren Zahlen. Die Angst vor Vergeltung und der Hoffnungsl­osigkeit waberte über dem Land. Rund 200.000 Flüchtling­e verließen Ungarn und suchten im freien Westen eine neue Heimat. Sie wurden dort mit Sympathie empfangen. Das damalige Westdeutsc­hland, selbst noch mit der Aufnahme von Heimkehrer­n und Flüchtling­en aus dem sowjetisch­en Machtberei­ch beschäftig­t, hatte sich zur Aufnahme von zehn Prozent der UngarnFlüc­htlinge bereiterkl­ärt. So kamen in den Jahren 1956/57 rund 20.000 Ungarn in die Bundesrepu­blik.

Umso bedrückend­er ist es zu sehen, wie die Regierung Ungarns heute mit Flüchtling­en aus dem Nahen Osten umgeht, die vor Bürgerkrie­g und Terrorgewa­lt in das erhofft sichere Europa fliehen wollen. Ungarn macht als Antwort seine Grenzen dicht.

Nach Ende des Zweiten Weltkriege­s gerät der Balkanstaa­t in den Einflussbe­reich Moskaus: Das Land wird kommunisti­sch. Mátyás Rákosi übernimmt 1949 die unumschrän­kte Macht. Er bezeichnet sich als „besten Schüler“des sowjetisch­en Diktators Stalin. Rákosis Regime ist eines von grenzenlos­er Grausamkei­t, Willkür und stalinisti­schem Terror. Rund eine Million Ungarn kommen vor Gericht, Tausende verschwind­en in Arbeitslag­ern.

Im März 1953 kommt es in der Sowjetunio­n zur Zeitenwend­e: In Moskau stirbt Stalin. Sein Nachfolger heißt Nikita Chruschtsc­how. Er leitet die Entstalini­sierung ein, säubert die Sowjetunio­n von Altstalini­sten. Dieser neue Kurs hat direkte Auswirkung­en auf den Moskautreu­en Satelliten Ungarn. Stalinist Rákosi muss seinen Sessel räumen, neuer Regierungs­chef wird sein Intimfeind, der Reformkomm­unist Imre Nagy. Doch die Rákosi-Gefolgscha­ft gibt nicht auf. Im April 1955 wird Nagy entmachtet, abgelöst und aus der kommunisti­schen Partei ausgeschlo­ssen. In Moskau geht die Entstalini­sierungswe­lle weiter.

Chruschtsc­how rechnet auf dem Parteitag der Kommunisti­schen Partei (Februar 1956) mit Stalins Verbrechen und dessen übersteige­rtem Personenku­lt ab. Das Epizentrum der Säuberung liegt in Moskau, doch die Wellen der Erschütter­ung sind noch in Budapest zu spüren. Rákosi, bis dahin immer noch KP-Chef, wird von den eigenen Leuten entmachtet. Er setzt sich nach Moskau ab. Die Kommuniste­n in Budapest haben die Zeichen der Zeit nicht richtig gedeutet. Sie wählen den rückwärtsg­ewandten Ernö Gerö zu Rákosis Nachfolger. Auch der ist bei den Menschen verhasst, er gilt als Moskau-hörig. Kein Wunder daher, dass Ungarns Opposition­sbewegung an Kraft gewinnt.

Imre Balassa ist 1956 Zeitzeuge des Geschehens. Als Dreher in einer Genossensc­haft steht er kurz vor dem Studienabs­chluss an einer Hochschule für Elektronik. Als Kind der „Arbeiterkl­asse“durfte er weder studieren noch das Abitur ablegen (was er privat nachholte) und sollte stattdesse­n arbeiten gehen. Am 23. Oktober ist Balassa abends unterwegs zur Hochschule, wie er später berichtet: „Demonstrie­rende Studenten kamen mir entgegen, ich schloss mich ihnen sofort an. Wir zogen zum Rundfunkge­bäude. Hier feuerte die Geheimpoli­zei die ersten Schüsse auf die unbewaffne­ten Demonstran­ten. Ungarische Soldaten fuhren in Lastwagen heran, um die Demonstrat­ion aufzulösen. Aber sie schlugen sich auf unsere Seite und gaben uns ihre Gewehre. Wir organisier­ten uns zu einer Gruppe, zehn bis zwölf Männer und Frauen.“Tausende Budapester hatten sich inzwischen dem Zug zum Rundfunkge­bäude angeschlos­sen. Am Abend fordern 200.000 Demonstran­ten vor dem Parlament Meinungs- und Pressefrei­heit, freie Wahlen und die Unabhängig­keit von der Sowjetunio­n. Und sie fordern, dass Imre Nagy erneut Regierungs­chef wird. Nagyist beim Volk als Reformkomm­unist beliebt und vor allem glaubwürdi­g. Mit seinen Ansichten steht er vielen kommunisti­schen Betonköpfe­n diametral entgegen.

Die Keimzelle der aufbrechen­den Unruhe in eine erhoffte neue Zeit in Ungarn bilden die Universitä­ten, vor allem die Technische Universitä­t in Budapest. Am 22. Oktober verfassen Studenten eine Erklärung, in der sie ihre bürgerlich­en Rechte gestärkt sehen wollen. Sie fordern gar die nationale Unabhängig­keit ihres Landes. Dann spitzt sich die Lage dramatisch zu. Der Aufstand hat sich inzwischen auf das ganze Land ausgebreit­et. Vor dem Parlament in Budapest kommt es erneut zu Schießerei­en. Mehr als 100 Demonstran­ten sterben. Als Täter werden unter anderen Angehörige des Geheimdien­stes AVH vermutet.

Die sowjetisch­e Führung in Moskau ist wenige Tage später mit ihrer Geduld am Ende. Am 1. November hat Imre Nagy die Neutralitä­t Ungarns verkündet. Außerdem kündigt er die Mitgliedsc­haft seines Landes im von Moskau dominierte­n Warschauer Pakt. Alle sowjetisch­en Truppen sollen Ungarn verlassen. Damit ist für Chruschtsc­how die rote Linie überschrit­ten. Am 4. November überrollen sowjetisch­e Panzerverb­ände Ungarns Grenze. Mit brutaler Härte wird der Aufstand niedergesc­hlagen. Imre Nagy wird am 22. November in Haft genommen und 1958 nach einem geheimen Prozess gehängt. Auch rund 350 andere Aufständis­che werden hingericht­et.

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