Montecristo
Ich kenne dich“, sagte sie und stellte das Glas neben sein frisches Bier. Es kam ab und zu vor, dass ihn jemand erkannte, denn manchmal schnitt er sich als Fragesteller in ein Interview hinein. Damit es natürlicher wirkte und auch, um sich ein wenig Bildschirmpräsenz zu verschaffen. Sie erleichterte den Zugang zu den Halbprominenten und war an gewissen Abenden auch in Situationen wie diesen hilfreich.
Aber dies war nicht einer dieser Abende.
Die Frau war hübsch auf eine etwas oft gesehene Art. Sie trug mehr Make-up als nötig und hatte sich offenbar für die Begegnung mit ihm die Lippen nachgezogen. „Du bist einer von Highlife“, stellte sie fest. „Stimmt’s?“
Er schüttelte den Kopf und trank einen großen Schluck Bier, wie um ihr zu zeigen, dass er nicht lange bleiben wollte.
„Ich habe dich aber in Highlife gesehen. Du bist Reporter.“
„Das ist möglich, ich arbeite manchmal für die“, gab er zur Antwort, trank einen weiteren großen Schluck und sah sich nach dem Kellner um.
Sie sah ihm in die Augen und fragte: „Hast du es eilig?“„Ein wenig.“Sie nickte ironisch. „Einfach dringend noch ein Bier gebraucht. Kenne ich.“
Der Kellner kam und legte seinen schweren Geldbeutel auf den Tisch. „Alles zusammen?“
„Dafür kennen wir uns zu kurz“, sagte Jonas.
„Ich hätte schon Zeit gehabt“, schmollte sie.
Brand suchte in seinem Portemonnaie nach sechs Franken, fand nur etwas Kleingeld und einen Zweihunderter. „Sorry, muss leider so bezahlen.“
„Macht nichts, so zählt es sich schneller am Feierabend“, antwortete der Kellner und gab ihm heraus.
Die Frau mit dem leeren Drink sah zu, wie die Scheine die Hand wechselten. „Die einen haben die Zeit, die anderen das Geld.“
Jonas musste lachen. Er zeigte auf ihr Glas und sagte: „Und noch so einen, was war das?“
„Mojito“, sagte musst mittrinken.“
Er wartete, bis sie ihren Drink hatte, prostete ihr zu mit seinem letzten Schluck Bier und wünschte ihr eine gute Nacht.
„Schade“, sagte sie und begann, sich nach Gesellschaft umzusehen.
Bis zu seiner Wohnung waren es noch knapp zehn Minuten. Der Föhnsturm hatte so zugenommen, dass Jonas die Trottoirs dicht vor den Häuserfassaden vorsichtig mied. Der Wind klapperte und ächzte in den Balkonen, brauste in den kahlen Alleebäumen und schlug mit nicht festgemachten Fensterläden.
Rofflerstraße 73 war ein vierstöckiges Backsteingebäude aus den dreißiger Jahren. Durch einen schmalen vernachlässigten Vorgarten gelangte man zum Hauseingang. Er war von je vier hässlichen nachträglich angebrachten Normbriefkästen aus Aluminium flankiert. Jonas nahm seine Post und ging die drei Treppen hinauf.
Die Wohnung war so ein Fall gewesen, bei dem ihm die Bildschirmpräsenz geholfen hatte. Bei der Besichtigung standen die Interessenten Schlange auf der Treppe, denn Altbauwohnungen mit hohen Räumen zu einem erschwinglichen Preis in dieser Gegend waren eine sie. „Aber du Rarität. Die ältere Frau von der Hausverwaltung hatte ihn erkannt. Sie hatte zwar keine Bemerkung gemacht, aber Jonas Brand hatte inzwischen einen Blick dafür, ob ihn jemand aus dem Fernsehen erkannte.
Auf jeden Fall wurde er den vielen Paaren und Familien vorgezogen, obwohl er auf dem Fragebogen kein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass er geschieden und Single war.
Um die drei Zimmer und den großzügigen Flur zu beleben, hatte er sie mit allem, was ihm in die Hände fiel, möbliert und dekoriert. Er wurde Stammkunde bei den Brockenstuben, Flohmärkten und Trödlern der Stadt.
Brand war ein Sammler ohne Konzept, kaufte Asiatica, Militaria, Porzellan, Volkskunst, Textilien, Poster, Nippes, Fotos, Nierentische, Stahlrohrmöbel, Kristalllüster, einfach alles, was ihm aus irgendeinem Grund gefiel oder er bemerkenswert fand.
Diese unsystematische Sammelwut verlieh seiner Wohnung eine etwas museale Gemütlichkeit, die gar nicht so richtig zu ihm passen wollte, denn sein Stil war im Grunde eher schnörkellos. Aber manchmal hatte er das Gefühl, dass er sich seiner Umgebung anzupassen begann.
Er hängte seinen Mantel an die runde Holzgarderobe, die aussah, als hätte sie in den fünfziger Jahren in einem Lehrerzimmer gestanden, ging ins Wohnzimmer und begann seine Beleuchtungszeremonie. Der Raum hatte keine zentrale Lichtquelle, sondern war voller Tischund Wandlampen, Stehlampen, Spots und Bodenleuchten. Auch eine Leuchtreklame für ein Dancing namens „Chérie“und ein leuchten- des Michelin-Männchen dienten als Lichtspender.
Jonas schaltete alles ein, machte sich einen Grüntee und steckte ein Sandelholzräucherstäbchen an.
Er war bei einem seiner Streifzüge auf eine kleine Sammlung skurriler Räucherstäbchenhalter gestoßen. Nymphen am Ende langgezogener Teiche, die als Aschenfänger dienten, Knochenmänner in Hamolstellung, in deren Augenhöhlen man die Stäbchen steckte, oder Drachen, denen man sie wie Speere in den Rachen stieß. Er hatte die ganze Sammlung zu einem sehr günstigen Preis gekauft, und die Standbesitzerin schenkte ihm als Zugabe eine Hand voll Schachteln mit Stäbchen verschiedener Duftnoten. Was ihn daran zweifeln ließ, dass der Preis tatsächlich so günstig gewesen war. So kam er auf den Geschmack der Räucherstäbchen.
Er setzte sich in einen ledernen Polstersessel, dessen schadhafte Stellen er mit einer Kanga verdeckt hatte. Das bedruckte Tragetuch aus Tansania zeigte eine grüne Palme und vier Kokosnüsse auf gelbem Grund und die Aufschrift: Naogopa simba na meno yake siogopi mtu kwa maneno yake. Das war Kisuaheli und hieß: „Ich fürchte mich vor einem Löwen mit seinen starken Zähnen, aber nicht vor einem Mann mit seinen Worten.“
Jonas griff zur Fernbedienung, stellte die Anlage an und erschrak. In voller Lautstärke fuhr das Gitarren-Intro von Bob Dylans Man in the Long Black Coat in die Stille.
Die Lautstärke stammte noch von einem jener sentimentalen Abende, die ihm manchmal widerfuhren und die in zu viel Alkohol und zu lauter Musik ausarteten.
(Fortsetzung folgt)