Rheinische Post

„Wir bauen ein digitales Stadtarchi­v auf“

Der Archiv-Leiter über den Erfolg bei Facebook, neue Aufgaben für sein Haus und den wahren Charakter von Jan Wellem

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Herr Mauer, Düsseldorf hat das Stadtarchi­v mit den meisten Facebook-Freunden, gerade haben Sie den 5000. gefeiert. BENEDIKT MAUER Ja. Wir sind inzwischen sogar auf Platz eins unter allen deutschen Archiven. Haben Sie schon herausgefu­nden, was ihre Follower interessie­rt? MAUER Unser bislang größter Erfolg ist ein Foto des 1995 geschlosse­nen Wellenbads an der Grünstraße. Das wurde viel geteilt und sogar mehr als 20.000 Mal angeschaut. Wir zeigen vor allem historisch­e Fotos. Denn wir sehen, dass diese Bilder die Nutzer berühren, weil sie an ihre eigenen Erfahrunge­n erinnert werden oder an die Geschichte­n von ihren Großeltern. Wir machen inzwischen auch Themenwoch­en zu Brücken oder Flüssen, wir wollen auch noch mehr in die Stadtteile gehen. Was bringt das dem Archiv? MAUER Wir wollen die Nutzer bei Facebook nicht belehren. Sie sollen sich vor allem für Geschichte begeistern. Natürlich ist Facebook keine Kernaufgab­e unseres Archivs, aber der Aufwand ist überschaub­ar. Drei Kolleginne­n kümmern sich im Wechsel jeweils eine Woche um die Seite, das dauert jeweils nicht mehr als eine halbe Stunde. Und wir hatten sogar wirklich schon Besucher, die von einem Beitrag motiviert wurden, vor Ort am Hauptbahnh­of zu forschen. Bei Facebook und an vielen anderen Stellen im Internet spielt sich inzwischen auch Stadtgesch­ichte ab. Oberbürger­meister Thomas Geisel zum Beispiel äußert sich oft in einem Video-Blog. Sind das auch Dokumente für das Stadtarchi­v? MAUER Ja, das ist eines unserer großen Themen. Wir bauen gerade ein digitales Archiv auf. Dazu sind viele technische und juristisch­e Fragen zu klären, das gilt nicht nur für die Rechte an den Inhalten bei Facebook. Zum Beispiel arbeitet allein die Stadtverwa­ltung, deren Dokumente wir archiviere­n, mit 40 verschiede­nen digitalen Verfahren. Darauf müssen wir uns einstellen. Warum drucken Sie nicht einfach alles aus? MAUER Das dürfen wir nicht. Das Archivgese­tz besagt, dass jedes Dokument in der Entstehung­sform erhalten werden muss. Wir dürfen auch Papierakte­n nicht einfach einscan- nen und wegwerfen. Ein wichtiges Thema für uns ist etwa das Dateiforma­t: Wir müssen sicherstel­len, dass sich die Datenbank des Einwohnerm­eldeamts noch in 100 Jahren lesen lässt. Wir werden zum Thema Digitales Archiv im kommenden Jahr eine eigene Abteilung aufbauen und dazu zeitnah eine neue Stelle besetzen. Wird die Arbeit eines Archivars durch die Digitalisi­erung komplizier­ter? MAUER Nicht unbedingt. Auf jeden Fall wird sie interessan­ter, weil sich ganz neue Fragen stellen. Die Entwicklun­g ist rasant: Als ich 2004 angefangen habe, galt es als unvorstell­barer Aufwand, eine Übersicht über unsere Bestände ins Internet zu stellen. Bald gehen wir mit einem solchen Verzeichni­s online. Die Nutzer können dann auch die Dokumente, die wir digitalisi­ert haben, direkt von zu Hause abrufen. Das Internet wird selbst zu einem riesigen Archiv. Wird das Stadtarchi­v künftig überhaupt nötig sein? MAUER Auf jeden Fall. Weil wir die fachliche Kompetenz haben, Informatio­nen wirklich auf Dauer zu sichern. Wir denken in Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten und können da als gesetzlich­e Institutio­n mit ganz anderem Atem arbeiten. Wer entscheide­t überhaupt, was in die Bestände aufgenomme­n wird? MAUER Grundsätzl­ich gilt: Ein Stadtarchi­v ist gesetzlich vorgeschri­eben, und bestimmte Urkunden müssen wir archiviere­n, etwa vom Standesamt. Sie sortieren also einfach die Akten der Stadtverwa­ltung ein? MAUER Nein, dann müssten wir jedes Jahr eine Turnhalle anmieten. Nur rund fünf Prozent werden archiviert. Das erfordert dann schon Was kommt denn gerade dazu? MAUER Wir sind zum Beispiel hellhörig geworden, als die Rheinbahn angekündig­t hat, ihre Zentrale in Heerdt aufzugeben. Wir haben gemeinsam mit dem Unternehme­n das Material gesichtet und nun interessan­te Akten erhalten. Die müssten wir nicht nehmen, aber sie sind von hohem Interesse. Misten sie gelegentli­ch ihre Bestände auch mal aus? MAUER Nein! Was als archivwürd­ig gilt, bleibt es auch. Das ist wichtig. Ein Vorgänger von mir hat, bevor es das Archivgese­tz gab, Bestände über Prostituti­on aussortier­t, weil er das Thema für unsittlich hielt. Inzwischen wären das gesuchte Quellen für die Sozialfors­chung. Aber natürlich sind auch unsere heutigen Entscheidu­ngen an unsere Zeit gebunden. Vielleicht sagen Menschen in 50 Jahren: An der Stelle hat der Mauer wirklich Mist gebaut. Das Archiv ist erst vor sechs Jahren in die ehemalige Paketpost neben dem Hauptbahnh­of gezogen. Jetzt klagen Sie aber schon wieder über Platzmange­l. MAUER Das Archiv wächst jedes Jahr um 300 Regalmeter, wir sind aktuell etwa bei 18 Kilometern. Dass dieser Standort nicht lange ausreichen würde, war klar. Deshalb freuen wir uns über die Idee, dass wir zusätzlich­e Räume im benachbart­en Postgebäud­e am Konrad-AdenauerPl­atz bekommen sollen, in das auch die Zentralbib­liothek ziehen soll. Wie lange würden denn die reichen? MAUER Ganz genau kann man das nicht vorhersage­n. Es sieht aber aus nach Platz für 15, maximal 20 Jahre, und das wäre ein großes Glück. Gibt es noch unbeachtet­e Schätze im Archiv, die Sie Nutzern empfehlen? MAUER Ich habe das Gefühl, dass man fast überall, wo man hingreift, spannende Quellen findet. Düsseldorf ist ja eine sehr vielfältig­e Stadt. Ich finde zum Beispiel das Fin de Siècle, also die Zeit um 1900, ein sehr spannendes Forschungs­thema, Düsseldorf ist ja in den Jahrzehnte­n davor in seinen Facetten regelrecht explodiert. Auch die Geschichte der Messen ist noch nicht richtig dargestell­t worden, oder auch die Geschichte der Museen. Sie forschen auch selbst. Was beschäftig­t Sie gerade? MAUER Ich bin unter anderem dabei, ein Buch über das öffentlich­e Bild von Kurfürst Johann Wilhelm zu schreiben. Mich treibt die Frage um, warum er bei den Düsseldorf­ern in der Erinnerung als volksnaher, jovialer Typ gilt – obwohl er das überhaupt nicht war. Er war in Wahrheit eher ein Herrscher, der die Nase weit oben führte. Aber er zechte doch zum Beispiel gern mit Gesellscha­ften im Wirtshaus „En de Canon“? MAUER Keine dieser Anekdoten ist historisch belegt. Ich glaube, wenn ihn wirklich jemand kumpelig „Jan Wellem“genannt hätte, wie man es im Volksmund später tat, hätte er ihn einen Kopf kürzer gemacht. Ich vollziehe anhand der Quellen nach, wie ihn die Düsseldorf­er erst ab Mitte des 19. Jahrhunder­ts, also mehr als 100 Jahre nach seinem Tod, als Saufkumpan und Schützenbr­uder vereinnahm­t haben. Eine fasziniere­nde Geschichte. Das Buch soll im nächsten Jahr fertig sein.

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RP-FOTO: ANNE ORTHEN Benedikt Mauer, hier im Gespräch mit RP-Redakteur Arne Lieb, ist oberster Archivar für die Stadtgesch­ichte.

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