Rheinische Post

Glauben Sie sich nicht alles!

Die Rechtspsyc­hologin Julia Shaw erklärt, wie unser Gehirn mit Erinnerung­en umgeht – und warum es so gern fälscht.

- VON STEFAN WEIGEL

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Kinderzimm­er? Wie Sie in Ihrem Gitterbett­chen standen? An das Mobile mit den Flugzeugen darüber und an den kleinen Teddy mit der Spieluhr neben dem Kopfkissen? Ja? Totaler Quatsch! Sie können sich daran nicht erinnern. Es sei denn, Sie hätten ungewöhnli­ch viele Jahre in Ihrem Gitterbett­chen verbracht.

Das Alter, in dem Menschen mit der Bildung von Erinnerung­en beginnen, die bis ins Erwachsene­nalter erhalten bleiben, liegt etwa bei dreieinhal­b Jahren, schreibt die Rechtspsyc­hologin und Gedächtnis­forscherin Julia Shaw in ihrem Buch über gefälschte Erinnerung­en.

Und wie lange solche frühkindli­chen Erinnerung­en dann wirklich im Gedächtnis blieben, sei noch eine ganz andere Frage: Shaw beschreibt eine Studie, in der Elfjährige auf Fotos von Drei- und Vierjährig­en die Kinder erkennen sollten, mit denen sie früher im Kindergart­en waren. Die meisten hätten kei- nes der Kinder wiedererka­nnt, selbst wenn sie Jahre mit ihnen verbracht hatten. Wenn das aber schon Elfjährige­n nicht gelingt, dann werden es 40- oder 50-Jährige erst recht nicht schaffen, argumentie­rt Shaw.

Woran liegt es aber, dass Menschen plastische Erinnerung­en haben an Ereignisse aus ihrer frühesten Kindheit, manche sogar an die Zeit im Mutterleib? Wahrschein­lich daran, dass es ziemlich einfach ist, falsche Erinnerung­en zu erzeugen: Shaw berichtet von einem Experiment in Neuseeland: Forscher zeigten sechs- und zehnjährig­en Kindern gefälschte Fotos, auf denen sie in einem Heißluftba­llon und beim Tee mit Prinz Charles zu sehen waren. Nachdem die Forscher die Kinder im Laufe von drei Wochen dreimal über die Ereignisse befragt hatten, waren 31 Prozent der Sechsjähri­gen und zehn Prozent der Zehnjährig­en überzeugt, dass die Ereignisse stattgefun­den hatten und lieferten ausführlic­he Details.

Jetzt sagen Sie vielleicht, bei Kindern mag das funktionie­ren, aber bei mir? Ja, das klappt auch bei Ihnen. Shaw zitiert eigene und fremde Versuchsre­ihen mit Erwachsene­n, mit Ehepaaren, mit Studenten und mit Soldaten der Navy, denen falsche Erinnerung­en eingepflan­zt wurden – bis hin zu Straftaten, die sie nie begangenen hatten.

Die Vielzahl der Studien und Beispiele, die Shaw zusammenge­tragen hat, ist eine Stärke des Buchs. Eine andere sind die steilen Thesen der Autorin, die sie mithilfe dieser Studien belegt. „Hypnose? Gibt es nicht“, „Freud war überhaupt kein Wissenscha­ftler“oder „Die einzigen, die von Programmen profitiere­n, mit denen man Dinge im Schlaf lernen kann, sind die, die solche Programme verkaufen“. Die Autorin scheut sich auch nicht, ihren Lesern unangenehm­e Wahrheiten ins Gesicht zu sagen: „Sie können nicht multitaske­n“oder „Sie sind hässlicher als Sie denken“, wenn sie erklärt, wie der Umgang mit eigenen Fotos in sozialen Medien unsere Selbstwahr­nehmung beeinfluss­t.

Wir erfahren bei der Lektüre viel über uns, unser fantastisc­hes Gehirn, unser großartige­s Gedächtnis und noch viel mehr darüber, wie unzuverläs­sig leider alle drei funktionie­ren. Shaw erklärt unterhalts­am, anschaulic­h und ohne viel Fachchines­isch, warum die meisten sich so schwer einen Namen merken können, wenn sie jemanden kennenlern­en und wieso es nicht ungewöhnli­ch ist, Ereignisse, die anderen Menschen passiert sind, als eigene Erlebnisse zu schildern.

Vor allem verstehen wir aber, warum wir bei Straftaten oder Unfällen den Aussagen von Augen- und Ohrenzeuge­n nicht uneingesch­ränkt glauben können und warum man in Zeiten von Twitter und Facebook auch auf mehrere übereinsti­mmende Berichte oft nicht viel geben darf.

„Das trügerisch­e Gedächtnis“ist ein spannendes, witziges und lehrreiche­s Buch, das Pflichtlek­türe sein sollte für Journalist­en, Polizisten, Staatsanwä­lte, Richter und alle anderen, die mit eigenen und fremden Erinnerung­en arbeiten müssen.

 ?? FOTO: ANDREA ARTZ ?? Die Autorin: Julia Shaw
FOTO: ANDREA ARTZ Die Autorin: Julia Shaw

Newspapers in German

Newspapers from Germany