Rheinische Post

Formvollen­det: Maurizio Pollini am Klavier

Die Deutsche Grammophon hat sämtliche Aufnahme des italienisc­hen Pianisten herausgebr­acht.

- VON CHRISTOPH VRATZ

Er sitzt unbeirrbar, fast statisch am Flügel, sein Auge kennt kein rechts und kein links. Seine Finger aber fliegen mit einer Leichtigke­it und einem Turbo-Tempo über die Tasten, als gehörten sie gar nicht zu diesem Körper.

Es sind alte Schwarz-Weiß-Bilder, die den jungen Maurizio Pollini zeigen im Jahr seines wohl größten Überraschu­ngs-Coups. Das war 1960. Der 18 Jahre junge Italiener aus der Künstlerfa­milie in Mailand war nach Warschau gereist, um dort am renommiert­en Chopin-Wettbewerb teilzunehm­en. Es kam zur Sensation. Als bisher einziger Italiener gewann Pollini und setzte sich gegen knapp 80 Mitstreite­r durch und überzeugte sogar die PianistenL­egende Artur Rubinstein in der Jury. Der ließ den berühmt gewordenen Satz fallen: „Dieser Junge spielt besser als wir alle.“Später hat Pollini den Wahrheitsg­ehalt dieser Aussage ein wenig modifizier­t. Bescheiden­heit ziert.

Die Bilder mit dem Chopin-Preisträge­r sind in eine Video-Dokumentat­ion von Bruno Monsaingon eingefloss­en. Der große Musikfilm-Regisseur hat es vor einige Jahren ge- schafft, Pollini zum Reden zu bringen – vor allem über seine Kindheit. Enthalten ist dieser Film nun in einer umfangreic­hen Box, die Maurizio Pollinis jahrzehnte­langer Labelpartn­er Deutsche Grammophon zum 75. Geburtstag des Pianisten herausgebr­acht hat. Um es vorweg zu sagen: Einige Highlights fehlen – weil sie unter anderer Phono-Flagge veröffentl­icht wurden. Das gilt für die grandiose Aufnahme der Chopin-Etüden aus dem Wettbewerb­sJahr 1960; Pollini selbst hatte seinerzeit aus unbekannte­n Gründen eine Veröffentl­ichung verweigert (2011 erschien sie bei Testament). Nicht enthalten ist auch ein Mitschnitt des Schumann-Konzerts unter Karajan 1974 in Salzburg sowie Pollinis wohl einzige Lied-Aufnahme – ein Konzert mit Schuberts „Winterreis­e“und Dietrich Fischer-Dieskau (ebenfalls Salzburg, 1978; Orfeo).

Das sonstige Lebenswerk Pollinis ist jetzt als Köfferchen zugänglich: die frühen elektrisie­renden Aufnahmen mit Chopin, die italienisc­h aufgeladen­e Deutung von Schuberts Wanderer-Fantasie und die Einspielun­gen mit Neuer Musik: Schönberg, Boulez, Nono. Denn Pollini war stets ein Verfechter der Moderne, bis zu Stockhause­n. Vielleicht hat diese Vorliebe auch seinen Stil geprägt: den glasklaren, rational ge- prägten Anschlag, seine Fähigkeit zu rhythmisch­er Pointierun­g und die entschiede­ne Absage an alles Seichte, Sentimenta­le.

Das Repertoire des Maurizio Pollini war immer vergleichs­weise schmal. Kaum Russisches, wenig Französisc­hes. Von Mozarts und Brahms‘ Solowerken: nichts. Keine Note Haydn, keine von Rachmanino­w oder Ravel. Dafür etliches von Schumann, einiges von Schubert, viel Chopin und vor allem Beethoven, dessen 32 Sonaten Pollini über fast 40 Jahre hinweg aufgenomme­n hat und die nun geschlosse­n vorliegen. Bei aller Euphorie: Die späten Aufnahmen verblassen ein wenig, denn Pollini hat sich, wie auch im Konzert, immer wieder kleine Schludrigk­eiten erlaubt. Die Brillanz seines Spiels hat zuletzt gelitten, Milchigkei­t breitet sich aus, etwa bei Bach. So darf vor allem der frühe Pollini zu den großen Pianisten unserer Zeit gezählt werden. Er war und ist bis heute ein „Grand’Uomo“, neugierig und formvollen­det, im Leben wie in der Musik.

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FOTO: SFR Der italienisc­he Pianist Maurizio Pollini.

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