Montecristo
Wahrscheinlich Marina, die seinen Wagen nicht gleich sah und zu vorsichtig war, die Scheinwerfer einzuschalten. Langsam hob er den Kopf. Neben dem Pflug glaubte er, die Umrisse eines Autos zu erkennen. Er öffnete die Tür und stieg langsam aus. Noch immer fiel der Schnee. „Marina?“, rief er halblaut. Plötzlich stand er im gleißenden Scheinwerferlicht. Gestalten rannten auf ihn zu, Männerstimmen riefen durcheinander.
Sekunden später lag er auf dem Boden, den Arm auf den Rücken gedreht, ein hartes Knie im Rücken.
Jemand hielt ihm grob beide Hände zusammen, er hörte, wie die Öse des Kabelbinders über die Verzahnung sirrte und seine Handgelenke eng zusammenband.
Er wurde auf die Beine gestellt und, halb gezerrt, halb gestoßen, zu einem dunklen Lieferwagen gebracht.
Die Männer waren ganz in Schwarz gekleidet: Cargo-Hose, Springerstiefel, Bomberjacken und Sturmhauben, die nur die Augen freiließen.
Einer von ihnen stieß ihn auf die Sitzbank und legte ihm den Sicherheitsgurt an.
Dann setzte er sich Jonas gegenüber, schnallte sich ebenfalls an und zog die Sturmhaube vom Kopf.
Der Lieferwagen fuhr los. Im Licht des Scheinwerfers des ihnen folgenden Wagens, das kurz durch das kleine vergitterte Heckfenster fiel, erkannte Jonas den Rothaarigen mit der Igelfrisur.
Jonas war wie gelähmt vor Angst vor dem, was ihm bevorstand, und vor Verzweiflung über Marinas Verrat.
Der Lieferwagen war hart gefedert, und der Fahrer fuhr die kurvenreiche Strecke ruppig und trotz Schnee am Limit. Jonas konnte sich mit den Händen nicht abstützen und wurde immer wieder erst im letzten Moment vom Mechanismus der Sicherheitsgurte aufgefangen.
Die Handgelenke, die am Anfang von den engen Kabelbindern geschmerzt hatten, waren gefühllos geworden. Es war, als hätte er keine Hände mehr.
„Marina hat mich verraten!“, war der einzige Gedanke, den er fassen konnte. „Marina hat mich verraten!“
Der Rothaarige sagte kein Wort. Er griff auch nicht ein, wenn Jonas beinahe von der Sitzbank kippte. Der Mann saß nur da und rauchte eine elektronische Zigarette, die einen seltsamen Duft verströmte.
Plötzlich wurde die Fahrt ruhiger und der Motor lauter. Sie mussten auf einer Autobahn sein.
Was hatte sein schweigender Bewacher vor? Als sie sich noch auf der Landstraße befanden, rechnete Jonas damit, dass sie irgendwo anhalten, ihn aus dem Wagen zerren und einfach abknallen würden. Aber jetzt hatte er das Gefühl, dass sie ein Ziel hatten. Jonas entspannte sich.
„Wohin fahren wir?“, fragte er. Und als er keine Antwort bekam: „Where are we going?“
Er sah nur die schwachen Umrisse des Gesichts und das Leuchten des Glutlämpchens der lächerlichen E-Zigarette. Ein Auftragskiller, der auf seine Gesundheit achtete. Wie andere Bankangestellte auch.
Wie rekrutiert eine Großbank solche Leute? Gab es dafür auch Headhunter? Durchliefen sie ebenfalls ein Assessment? Er sprach Englisch, hatte Frau Gabler gesagt. War er Amerikaner oder Engländer? Oder vielleicht Australier oder Südafrikaner? War er vielleicht ein Angestellter einer PMC, einer dieser Private Military Companies, die sich in der Schweiz niedergelassen hatten? Was kostete so einer? Und wie verbuchte man sein Gehalt?
Der Wagen wurde langsamer, sie hatten die Autobahn verlassen und fuhren auf Straßen mit Ampeln, Kreuzungen und Abzweigungen. Jonas kämpfte wieder um sein Gleichgewicht.
Plötzlich hielten sie an und fuhren kurz darauf langsam steil bergab und in einer Spirale immer tiefer. Sie stoppten, und die Schiebetür wurde aufgestoßen. Grelles Neonlicht blendete ihn.
Sein Bewacher hatte die Sturmhaube wieder übergezogen. Er öffnete Jonas’ Sicherheitsgurt und zerrte ihn heraus. Draußen wartete ein zweiter Vermummter.
Sie führten ihn durch einen Korridor voller Luftschutztüren zu einem Warenlift. Während der Lift sie in ein höheres Stockwerk fuhr, schnitt einer der Vermummten – dem Geruch nach E-Zigaretten nach war es der Rothaarige – den Kabelbinder durch.
Die Tür öffnete sich, sie stießen ihn hinaus, und die Lifttür schloss sich vor seinen beiden Entführern.
Jonas Brand befand sich alleine in der Mitte eines langen Korridors. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, die meisten geschlossen. Der Geruch kam ihm bekannt vor, aber er konnte ihn nicht zuordnen.
Er begann, die gefühllosen Hände zu massieren und langsam in die Richtung zu gehen, aus der er Stimmen zu vernehmen glaubte.
Die fünfte Tür stand offen. Zwei Männer saßen an Schreibtischen, einer telefonierte. Keiner der beiden bemerkte Jonas.
Er klopfte mit einem gefühllosen Knöchel an den Türrahmen. Der Mann, der nicht telefonierte, sah auf. „Ja?“, sagte er. Dann schien er Jonas zu erkennen, stand auf und kam auf ihn zu. Er trug ein Schulterhalfter mit einer Pistole. Jetzt konnte Jonas den Geruch zuordnen. Polizei.
„Mein Name ist Jonas Brand. Ich wurde entführt.“
Der Mann am Telefon unterbrach das Gespräch und wählte eine Nummer. „Er ist da“, sagte er und legte auf.
Zehn Minuten später saß Jonas wieder in einem fast fensterlosen Kastenwagen. Diesmal war er nicht gefesselt, und seine beiden Begleiter trugen dunkelblaue Polizeiuniformen mit dem Berner Wappen. Sie waren gleich wortkarg wie seine Entführer, aber höflicher. Sie sagten „bitte“, wenn sie ihn aufforderten, sich zu setzen. Und als sie ihr Ziel erreichten und er das Fahrzeug verlassen musste, sagten sie es auch.
Ihr Ziel war die Tiefgarage eines neueren Gebäudes. Und wieder wurde er zu einem Lift geführt.
Sie brachten ihn in einen kleinen Raum. An den Wänden hingen ein paar Stiche der Stadt Bern, und ein paar Stilmöbel bildeten eine Sitzgruppe.
Die Polizisten forderten ihn auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich auf einen Biedermeiersessel. Die Beamten blieben stehen und warteten.
Sein Blick fiel auf die Armbanduhr. Er hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit unterwegs gewesen zu sein, aber es war erst nach halb zehn.