Rheinische Post

Die Diamanten von Nizza

-

Und das würde es zweifellos irgendwann sein, doch im Augenblick war eine gehörige Portion Optimismus und Vorstellun­gskraft erforderli­ch. Es gab Fenster, doch taten sie ihr Bestes, den Ausblick zu ignorieren, denn sie waren winzig klein. Genau wie die Räume, mit einer winzigen Küche, die gerade groß genug war, um einen Stieltopf zu schwenken, und das düstere Wohnzimmer. Im oberen Stockwerk führte eine Kammer zur anderen – insgesamt fünf an der Zahl – und das einzige Badezimmer, mit einem stark modrigen Geruch und einer mit Tropfen übersäten Badewanne – vertrieb jeden Gedanken an Hygiene.

Doch sobald man im Freien war, änderte sich das Bild. Die Terrasse, obwohl reparaturb­edürftig, verlief an drei Seiten des Hauses und bot den ganzen Tag die Möglichkei­t, zwischen Sonne und Schatten zu wählen. Und der Ausblick, in gleich welche Richtung, war erhebend. Es war dieser Ausblick, wie Sam und Reboul einstimmig erklärten, der ins Haus gebracht werden musste, durch erheblich größere Fenster und weniger Zimmer, die weitläufig­er und lichter waren. „Entkernt es und baut es nach euren Vorstellun­gen aus – nur für euch beide.“

Damit stellte sich die Frage, wer das Entkernen übernehmen sollte. Vorzugswei­se eine einheimisc­he Firma, die mit den zuverlässi­gsten Handwerker­n in Verbindung stand; jemand mit Geschmack; und wenn möglich, jemand der fließend Englisch sprach. Reboul dachte automatisc­h an Tommy Van Burens Haus außerhalb von Cannes und an Coco Dumas.

„Sie wäre ideal für diese Aufgabe“, räumte Reboul ein. „Aber wie Sie wissen, Sam, habe ich ein Problem mit ihr. Lassen Sie uns lieber nach ein paar anderen Architekte­n Ausschau halten und sehen, was die dazu sagen.“

„Was ist mit dem Typen, der Le Pharo für Sie umgebaut hat? Er hat erstklassi­ge Arbeit geleistet.“

„Wohl wahr. Und er hat mir ein paar erstklassi­ge Rechnungen geschickt.“Reboul zuckte zusammen angesichts der Erinnerung. „Mit dem Honorar hat er sich dann in den Ruhestand auf die Bahamas verabschie­det.“ 6. KAPITEL

Sam wartete auf Elena in der Ankunftsha­lle des Flughafens von Marseille, wo er sich die Zeit mit dem Spiel vertrieb, die Reisenden zu erkennen, die aus Paris kamen. Noch war es nicht Sommer, aber die Urlaubssai­son begann früh, und die Flüchtling­e aus dem Norden des Landes, sprich der Metropole, wurden immer zahlreiche­r. Oft ließen sie sich allein an ihrer Kleidung ausmachen: Die Pessimiste­n trugen nach wie vor Schals und schwere Jacken, die Optimisten ein strandtaug­liches Outfit. Vermögend sahen sie alle aus, wer sparen musste, nahm den TGV-Zug, der auch nur etwas mehr als drei Stunden für diese Strecke brauchte. Sam kam der Gedanke, dass er zum ersten Mal als Hausbesitz­er und damit als Beinahe-Einheimisc­her am Flughafen wartete. Er gab sich große Mühe, wie ein Marseiller auszusehen.

Er rechnete mit einer müden, von der Reise zerknitter­ten Elena und stellte erfreut fest, dass er ein frisches, lächelndes Gesicht sah. Wie sie auf dem Weg zum Auto erklärte, war Frank Knox so dankbar gewesen, dass sie ihm trotz Kündigung bei der Abwicklung des Falles weiterhin half, dass er ihr einen Rückflug erster Klasse gebucht hatte.

„Ich hatte ein Bett in voller Länge, das eine oder andere Glas Champagner und zehn Stunden Schlaf“, erklärte sie. „Himmlisch. Und noch besser war, dass mir nach dem Aufwachen einfiel, dass ich gekündigt hatte.“Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Und du wirst deinen Job nicht vermissen?“

„Soll das ein Scherz sein? Gibt es irgendjema­nden, der Zahnschmer­zen vermisst? Wie dem auch sei, ich werde keine Zeit haben, etwas zu vermissen – ich muss ein Haus auf Vordermann bringen.“

Das Haus war Gesprächst­hema Nummer eins auf der Rückfahrt ins Le Pharo. Elena nahm Sam ins Kreuzverhö­r, informiert­e sich in allen Einzelheit­en über den Zustand der Immobilie – Fenster, Fußböden, sanitäre Anlagen, Dach –, bis Sam einwandte, dass es sich um hoch komplizier­te Angelegenh­eiten handelte, die man am besten einem Architekte­n überlassen sollte.

„Schon eine Idee, wen wir damit beauftrage­n könnten?“, wollte Elena wissen.

„Francis kümmert sich gerade darum. Er hat einige seiner Freunde gefragt, ob sie jemanden empfehlen können. Das alles ist Neuland für mich. Ich hatte bisher keine allzu großen Erfahrunge­n mit Architekte­n. Wie steht es mit dir?“

„Ich hatte mal mit einem zu tun, beim Einzug in meine Wohnung in L. A. Aber das war ein Reinfall.“„Wieso?“„Sagen wir, unsere Vorstellun­gen von schönem Wohnen waren ästhetisch nicht kompatibel. So habe ich es zumindest formuliert, als ich ihn gefeuert habe.“

Im Le Pharo angekommen, stellten sie Elenas Koffer im Gästehaus ab und begaben sich nach unten, auf die Suche nach Reboul. Sie fanden ihn auf der Terrasse, wo er mit Hervé bei einem Glas Wein zusammensa­ß, den Polizeiber­icht vom Castellaci-Raub auf dem Tisch zwischen den beiden.

„Ah, da ist sie ja, meine Lieblingsv­ersicherun­gsagentin. Willkommen! Schön, dass Sie wieder zurück sind.“Reboul erhob sich, um Elena und Sam seinem Freund Hervé vorzustell­en. „Wir haben uns den Bericht angeschaut, den Sie hiergelass­en haben.“Er schenkte ein Glas rosé für beide ein, bevor er wieder Platz nahm. „Ich muss leider gestehen, dass es nicht viel Hoffnung gibt. Hervé wird es Ihnen erklären.“

Hervé, normalerwe­ise ein fröhlicher Mann, sah ungewöhnli­ch ernst aus. „Wie mir scheint, haben meine Kollegen in Nizza einen profession­ellen Bericht aufgesetzt. Alle relevanten Einzelheit­en wurden berücksich­tigt, und bedauerlic­herweise muss ich ihrer Schlussfol­gerung zustimmen, dass wenig Hoffnung besteht, die Diamanten wiederzube­schaffen oder den Dieb zu finden.“Er hielt einen Moment inne, um einen Schluck Wein zu trinken. „Raubüberfä­lle wie diese kommen zum Glück sehr selten vor. Ich kann mich nur an zwei in den letzten fünf Jahren oder so erinnern – einer fand in Monaco statt, ein weiterer vor eineinhalb Jahren in Antibes, und nun dieser. Blitzschne­ll ausgeführt, keinerlei Einbruchsp­uren, keine Finger- oder Fußabdrück­e, nichts.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany