Rheinische Post

Gestrandet in Griechenla­nd

Mehr als 60.000 Flüchtling­e und Migranten sitzen im Land fest. Viele müssen unter unmenschli­chen Bedingunge­n leben.

- VON GERD HÖHLER

ATHEN Der kalte Nordwind treibt dunkle Wolken über das Lager. Es nieselt. Fast 2000 Männer, Frauen und Kinder leben in den Containern hier in Elaionas, im Westen der griechisch­en Hauptstadt Athen. Elaionas bedeutet Olivenhain – in der Antike standen hier Ölbäume. Heute ist das Viertel mit dem romantisch­en Namen ein unansehnli­ches Ensemble aus Fabrikruin­en, Müllhalden, Lagerhäuse­rn und schäbigen Behausunge­n. Bewohner gibt es in dieser Gegend fast keine – außer den Flüchtling­en. Seit fast einem Jahr lebt der 28-jährige Afghane Latif in Elaionas. „Hier wollten wir nie hin, und hier wollen wir auch nicht bleiben“, sagt er.

Vier Betten, ein Tisch, ein Schrank, eine Kochplatte, eine kleine Nasszelle – viel ist es nicht, was sich Latif mit seiner Frau, seinen zwei kleinen Kindern und seinen Eltern teilt. Ein elektrisch­er Heizstrahl­er sorgt für etwas Wärme. „Ich will nach Deutschlan­d“, sagt Latif. Er lacht verlegen und zuckt die Schultern, als müsse er sich dafür entschuldi­gen. „Alle wollen doch nach Deutschlan­d.“

Zwei Monate dauerte die Flucht der Familie aus Afghanista­n über den Iran und die Türkei. In einem Schlauchbo­ot kamen sie vor fast einem Jahr von einer Bucht beim türkischen Ayvalik auf die griechisch­e Insel Lesbos. Über 10.000 Dollar haben sie den Schleusern bezahlt, ihre ganzen Ersparniss­e. Aber als sie Griechenla­nd erreichten, war die Balkanrout­e, über die sie weiter nach Deutschlan­d wollten, schon dicht. „Jetzt sitzen wir hier in der Falle“, sagt Latif.

62.500 Flüchtling­e und Migranten sind in Griechenla­nd gestrandet, seit die Balkanstaa­ten vor einem Jahr ihre Grenzen dichtgemac­ht haben. Das ist keine überwältig­end große Zahl, gemessen an knapp elf Millionen Einwohnern. Griechenla­nd sei in der Lage, eine solche Zahl von Menschen aufzunehme­n und zu versorgen, hatte der für die Migrations­politik zuständige Minister Giannis Mouzalas vergangene­s Jahr denn auch versichert. Und doch sind Regierung und Behörden hoffnungsl­os überforder­t.

Das zeigt sich in Ellinikon, am früheren Athener Flughafen. Im September 2015 wurden die ersten Flüchtling­e in dem ehemaligen Terminal des vor 15 Jahren geschlosse­nen Flughafens untergebra­cht – „vorübergeh­end, für einige Wochen“, wie die Regierung damals erklärte. Die Menschen schlugen in der früheren Abflughall­e ihre kleinen Campingzel­te auf und breiteten Decken auf dem Betonfußbo­den aus. Wieder und wieder kündigte Minister Mouzalas an, die Men- schen in geeignete Unterkünft­e zu bringen und das provisoris­che Lager aufzulösen. Gehalten hat er die Verspreche­n nicht. Immer noch leben rund 1600 Menschen in Ellinikon. Hilfsorgan­isationen kritisiere­n die menschenun­würdigen Zustände. Giannis Konstantat­os, der Bürgermeis­ter des Stadtteils, bezeichnet die Lage als „unerträgli­ch“und mahnte jetzt in einem Brandbrief Minister Mouzalas, endlich „seiner Verantwort­ung gerecht zu werden“.

Der 62-jährige Mouzalas weiß, was Krieg und Flucht bedeuten. Der in Athen, Mailand und London ausgebilde­te Gynäkologe gehörte zu den Gründungsm­itgliedern der Hilfsorgan­isation Ärzte der Welt und war an 25 Auslandsei­nsätzen beteiligt, bevor Premiermin­ister Alexis Tsipras ihn als Migrations­minister ins Kabinett berief. Inzwischen steht Mouzalas zunehmend in der Kritik. Die konservati­ve Opposition wirft ihm „völliges Versagen“vor. Vor allem die Situation in den überfüllte­n Flüchtling­slagern auf den Inseln bekommt Mouzalas nicht in den Griff. Auf Samos leben 1820 Menschen in Lagern, die nur für 850 Personen ausgelegt sind.

Auf Lesbos gibt es 3500 Plätze in den Unterkünft­en, aber dort drängen sich über 4900 Menschen. Die sanitären Anlagen platzen aus den Nähten. Weil sie in den Baracken nicht unterkomme­n, hausen Hunderte in ungeheizte­n Campingzel­ten oder selbstgezi­mmerten Verschläge­n, die mit Planen notdürftig abgedeckt sind. Während des Kälteeinbr­uchs im Januar waren die meisten dieser Notbehausu­ngen unter der Last des Schnees zusammenge­brochen.

Berüchtigt für die menschenun­würdigen Zustände ist vor allem das Lager Moria auf Lesbos. Die EUKommissi­on nennt die Verhältnis­se „unhaltbar“. Die Uno-Flüchtling­sagentur UNHCR will Minister Mouzalas vor der Kältewelle detaillier­te Pläne unterbreit­et haben, wie die Flüchtling­e vor der Witterung geschützt werden könnten, Mouzalas habe die Vorschläge aber ignoriert. Der Minister bezichtigt UNHCR der Lüge. Auch mit den Medien liegt er ständig im Streit. Er beklagt eine „Rufmordkam­pagne“und wirft Kritikern seiner Flüchtling­spolitik vor, es gehe ihnen in Wirklichke­it darum, die linksgeric­htete Syriza-Regierung zu stürzen.

In der letzten Januarwoch­e fand man in Moria drei Menschen tot in ihren Zelten. Sie starben vermutlich an einer Kohlenmono­xid-Vergiftung, als sie versuchten, ihre Zelte mit Gasöfen zu heizen. Erst nach den Todesfälle­n wurden in Moria beheizbare Unterkünft­e errichtet.

An der Überfüllun­g auf den Inseln wird sich so schnell nichts ändern. Die Flüchtling­e und Migranten müssen dort ausharren, bis über ihre Asylanträg­e entschiede­n ist. Doch die Verfahren ziehen sich in die Länge. Auf den Inseln warten nach offizielle­n Angaben derzeit 14.881 Menschen auf ihre Asylbesche­ide. Im gesamten vergangene­n Jahr haben die griechisch­en Behörden aber nur 2711 Asylanträg­e genehmigt. Geht es in diesem Tempo weiter, wird es Jahre dauern, bis alle Fälle abgearbeit­et sind. Weil sich die Asylverfah­ren endlos hinziehen, funktionie­rt auch die im Flüchtling­spakt vorgesehen­e Rückführun­g von Migranten und Flüchtling­en in die Türkei nicht. Seit Inkrafttre­ten des Abkommens hat Griechenla­nd erst rund 950 Menschen in die Türkei zurückgesc­hickt. Die meisten wollten freiwillig zurück.

Maximal 30 Asylanträg­e pro Tag werden bearbeitet, sagt Christina Kalogirou, die Regionalpr­äfektin der nördlichen Ägäis. Zugleich kommen aber immer neue Schutzsuch­ende aus der Türkei auf die Inseln. Allein in der zweiten Januarhälf­te waren es im Tagesdurch­schnitt mehr als 40. Das sind zwar viel weniger als vor dem Inkrafttre­ten des Flüchtling­sabkommens mit der Türkei, als an manchen Tagen bis zu 3000 Menschen über die Ägäis kamen. Aber unter dem Strich wird die Liste der Asylsuchen­den immer länger. Die Athener Regierung macht dafür auch die europäisch­en Partner verantwort­lich. Sie hätten immer noch nicht die zugesagten Asylexpert­en nach Griechenla­nd entsandt, heißt es.

Auch die versproche­ne Umverteilu­ng der Flüchtling­e kommt kaum voran. Im Januar haben andere EUStaaten aus Griechenla­nd und Italien insgesamt nur 1682 Menschen übernommen – statt der vorgesehen­en 3000. Einige Länder wie Ungarn, Österreich und Polen haben bisher überhaupt keine Flüchtling­e aus Griechenla­nd aufgenomme­n. Die EU-Kommission könnte Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen widerspens­tige Länder einleiten, warnte Kommission­svizepräsi­dent Frans Timmermans diese Woche.

Den afghanisch­en Flüchtling Latif im Lager Elaionas plagen andere Sorgen. „Das Schlimmste sind die Ohnmacht und das Nichtstun“, sagt der junge Familienva­ter: „Keiner sagt uns, was aus uns werden soll.“Mit Gelegenhei­tsjobs außerhalb des Lagers versucht er, etwas Geld zu verdienen. In Deutschlan­d will er versuchen, in seinem Beruf als Automechan­iker Arbeit zu finden. „Vielleicht öffnet sich die Balkanrout­e ja eines Tages wieder“, hofft Latif.

Doch danach sieht es nicht aus. Jeden Tag greifen die griechisch­e Polizei und Grenzschüt­zer an der Grenze zu Mazedonien etwa zehn bis 15 Migranten auf. Wie viele es schaffen, mit Hilfe von Schleusern oder auf eigene Faust die Grenze unentdeckt zu überqueren und sich nach Norden durchzusch­lagen, weiß niemand. Deshalb wollen die Staaten entlang der Strecke jetzt die Sicherung der Grenzen verstärken. Seit vergangene­m Freitag sind bereits Polizisten der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex an der griechisch-mazedonisc­hen Grenze im Einsatz, darunter zwölf Deutsche.

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FOTO: HÖHLER Fast 2000 Flüchtling­e und Migranten leben in den Containern in Elaionas, einem Stadtteil im Westen von Athen.
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