Rheinische Post

Performanc­e in der Kirche: Der Mensch wird „Dataist“

- VON LISA MAIER-BODE

„Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“, ertönt es von einem mit Planen überzogene­n Gerüst. Sechs dieser Gerüste stehen mitten in der Christuski­rche. Die Atmosphäre ist viel düsterer als bei einem gewöhnlich­en Kirchenbes­uch. Statt Bänken stehen Sofas im Raum. Irgendwann kommen unter den Gerüsten zwei Frauen und zwei Männer hervor, nur mit Unterwäsch­e bekleidet. Sie wirken bedrohlich und rufen in ihre Mikrofone, dass sie die Erde bis an ihre Grenzen erweitern wollen.

In der Christuski­rche in Oberbilk feierte nun die futuristis­che Tanztheate­r-Performanc­e „Vom Vermessen/Mögliche Un.Möglichkei­ten oder Die Erweiterun­g des Realistisc­hen durch das Phantastis­che“Premiere. Es ist die dritte Arbeit zum Inszenieru­ngszyklus „Erkundunge­n und Einmischun­gen“des Theater-Ensembles Tatraum Projekte Schmidt. Der Zyklus möchte die sozialevol­utionäre Veränderun­g der Gesellscha­ft thematisie­ren, und unter der Regie von Michael Schmidt wollen die Darsteller in den Gemäuern der Kirche ergründen, wie der Mensch sich selbst und seine Mitmensche­n erforscht. Eine der Darsteller­innen erzählt, dass der menschlich­e Geist heute Forschungs­objekt sei und von den Wissenscha­ftlern als „alte Tempelanla­ge“betrachtet werde. Da der Geist sich ständig verändere und man im- mer wieder neue Dinge lerne, sei er aber viel mehr eine Art Tunnelsyst­em, in dem noch lange nicht alles erforscht sei. Die Performanc­e stellt die Naturwisse­nschaft dem Humanistis­chen gegenüber und fragt dabei: Was bedeutet Sein?

Es wird die These aufgestell­t, dass sich der Mensch im digitalen Zeitalter zu seinem eigenen Projekt entwickelt, indem er sich ständig selbstopti­mieren möchte. Die Darsteller ziehen sich schwarze Anzüge an, und die Projektion eines heute so beliebten Schritt- und Kalorienzä­hlers wird an die Kirchenwan­d geworfen. Der Mensch sei heute ein „Dataist“, heißt es. Aber: Glück ließe sich nicht berechnen.

Segmente aus Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman „Solaris“werden eingewoben, Videoinsta­llationen begleiten die Performanc­e. Die Zuschauer, die auf den Sofas, den Treppen vorm Altar oder auf dem Boden Platz genommen haben, werden involviert, bekommen Scheinwerf­er in die Hand gedrückt, manche werden durch die Kirche geschoben. Zuletzt ziehen die Performer ihre Anzüge wieder aus, sie legen sich auf den kalten Boden, das Licht geht aus. Das Publikum verlässt die Kirche nachdenkli­ch. Vielleicht wurden sie Zeuge einer ganz besonderen Art von Predigt.

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