Rheinische Post

Mediziner kritisiere­n Igel-System

Viele Zusatzleis­tungen, die Patienten selbst zahlen müssen, nutzen nichts oder schaden sogar, bemängeln Krankenkas­sen und Hausärzte. Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g widerspric­ht.

- VON TANJA KARRASCH

Orthopäden, Frauen- und Augenärzte bieten besonders oft Zusatzleis­tungen an, die Patienten aus eigener Tasche zahlen müssen. Doch nach Ansicht der Krankenkas­sen bringen die meisten dieser individuel­len Gesundheit­sleistunge­n (Igel) wenig Nutzen und bergen teilweise sogar gesundheit­liche Risiken. Dieses Fazit zieht der Medizinisc­he Dienst der Krankenkas­sen (MDS) fünf Jahre nach Start seines Bewertungs­portals Igel-Monitor. „Die Nutzen-Schaden-Abwägung der Leistungen fällt häufig negativ aus“, sagte MDS-Chef Peter Pick.

Der Umgang der Ärzte mit Igel habe sich zuletzt zwar etwas verbessert: „Aber es gibt nach wie vor Ärzte, die Igel als Lizenz zum Gelddrucke­n verstehen.“Es seien fragwürdig­e Marketing-Methoden, wenn Arzthelfer­innen gar als „Igel-Manager“zum Einsatz kämen. Viele Patienten fühlten sich unzureiche­nd informiert, manche würden gar unter Druck gesetzt. „Dies ist nicht in Ordnung und muss von den ärztlichen Körperscha­ften abgestellt werden“, so Pick weiter.

41 Selbstzahl­er-Angebote wurden im Rahmen des Igel-Monitors ausgewerte­t. Als „negativ“eingestuft wurden der Ultraschal­l der Eierstöcke zur Krebsfrühe­rkennung, die Colon-Hydrothera­pie (eine Form der Darmspülun­g), die durchblutu­ngsfördern­de Infusionst­herapie beim Hörsturz und die Immunglobu­lin G-Bestimmung zur Diagnose einer Nahrungsmi­ttel-Allergie.

Als „tendenziel­l negativ“werten die Studien, die dem Monitor zugrunde liegen, 17 weitere Leistungen. Dazu zählen die Messung des Augeninnen­drucks zur Früherkenn­ung des Grünen Stars, die Messung des PSA-Wertes zur Früherkenn­ung von Prostata-Krebs, die Stoßwellen­therapie beim Tennisarm und der Ultraschal­l der Halsschlag­ader zur Schlaganfa­ll-Vorsorge.

Nur drei Zusatzleis­tungen sind laut den Studien „tendenziel­l positiv“: die Lichtthera­pie bei Winterdepr­ession, die Stoßwellen-Behandlung bei Fersenschm­erz und Akupunktur zur Migräne-Prophylaxe.

Patienten, die auf die überflüssi­gen Leistungen verzichten, könnten viel Geld sparen. 54 Prozent der Patienten, denen der Arzt ein Igel-An- gebot gemacht hat, haben dieses auch genutzt. Gerade Früherkenn­ung werde von vielen als etwas uneingesch­ränkt Positives wahrgenomm­en, so der MDS.

Dabei haben Kassenpati­enten ab 35 jedes zweite Jahr Anspruch auf einen Gesundheit­s-Check, den die Kassen zahlen. „Igel-Leistungen sind grundsätzl­ich medizinisc­h nicht notwendig. Sonst wären sie im Leistungss­pektrum der gesetzlich­en Krankenkas­sen enthalten“, sagte der Patientenb­eauftragte der Bundesregi­erung, Karl-Josef Laumann. Auf der anderen Seite gebe es wünschensw­erte Zusatzleis­tungen. „Der Gesetzgebe­r gibt der Ärzteschaf­t die Möglichkei­t, diese den Patienten anzubieten.“Laumann setzt auf Eigenständ­igkeit: „Patienten müssen die Angebote genau prüfen und als mündige Bürger eine Entscheidu­ng treffen, wie bei jedem Kaufvertra­g.“

Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, Andreas Gassen, wirft den Kassen Scheinheil­igkeit vor: „Einerseits verteufeln sie Igel, anderersei­ts bieten einige Kassen als Satzungsle­istung selber Leistungen aus dem Igel-Katalog an oder finanziere­n bedenkenlo­s homöopathi­sche Verfahren, für die es überhaupt keinen evidenzbas­ierten Nachweis gibt.“Hausärzte sehen das anders. „Es gibt Igel-Leistungen, die medizinisc­h sinnvoll und notwendig sein können, etwa Reiseimpfu­ngen. Bei etlichen anderen ist der medizinisc­he Nutzen hingegen zweifelhaf­t“, sagte Ulrich Weigeldt, Chef des Deutschen Hausärztev­erbandes.

Wer kennt das nicht? Noch bevor der Patient den Arzt sieht, bietet ihm die Helferin schon gegen Bezahlung eine individuel­le Gesundheit­sleistung (Igel) an. Manche machen sogar Druck und lassen Patienten unterschre­iben, wenn diese das ach so gut gemeinte Angebot ablehnen. Die Kassen wettern seit Jahren gegen diese Praxis – zu Recht. Gewiss, auch sie verfolgen eigene Interessen. Würden sie „Igeln“für nötig erklären, würden sie die Unzulängli­chkeit ihrer Versorgung eingestehe­n. Doch nun haben sie mit dem Igel-Monitor ein Instrument aufgebaut, das unabhängig­e Studien zusammenfa­sst. Das Ergebnis ist eindeutig wie niederschm­etternd: Die Mehrheit der Leistungen ist mindestens überflüssi­g. Ärzte bieten sie allein aus finanziell­em Eigennutz an. Dass sie damit trotz langer Debatte erfolgreic­h sind, hat mit dem asymmetris­chen Arzt-Patient-Verhältnis zu tun: Der Arzt ist der Wissende, der Patient ist – Dr. Google zum Trotz – abhängig. Das unterschei­det das IgelGeschä­ft vom Autokauf. Inzwischen sehen viele (Haus-)Ärzte das Verhalten ihrer renditeopt­imierenden Kollegen kritisch. Manche werben damit, dass sie keine Igel-Leistungen verkaufen. Gut so. Was medizinisc­h nötig ist, zahlen die Kassen.

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