Rheinische Post

Die Erben der Demokratie

- VON JAN DREBES

Zum Vermächtni­s des einstigen Bundeskanz­lers und SPDÜbervat­ers Willy Brandt gehört der Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Wie Brandt das genau meinte, führte er in seiner Regierungs­erklärung vom 28. Oktober 1969 weiter aus – allerdings in weniger berühmten Sätzen. Demnach sollten Bürger durch mehr Austausch mit der Politik die Möglichkei­t erhalten, „an der Reform von Staat und Gesellscha­ft mitzuwirke­n“. Brandt sprach dabei explizit die junge Generation der damals noch geteilten Bundesrepu­blik an: „Wir wenden uns an die im Frieden nachgewach­senen Generation­en, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen.“Diese jungen Menschen müssten aber verstehen, so Brandt, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellscha­ft Verpflicht­ungen hätten.

Heute, mehr als 47 Jahre oder fast zwei Generation­en später, sind viele ältere Bundesbürg­er jedoch pessimisti­sch, dass die Jugendlich­en später einmal jene Verantwort­ung für den Erhalt der Demokratie übernehmen würden, die Brandt anmahnte. Einer jüngst vorgestell­ten Studie zufolge fehlt einem Drittel der erwachsene­n Bevölkerun­g dieses Zutrauen in die Kinder und Jugendlich­en: Sie trauen dem Nachwuchs nicht zu, später für die Demokratie einzustehe­n. Das ist das Ergebnis einer repräsenta­tiven Untersuchu­ng, für die das Meinungsfo­rschungsin­stitut Infratest Dimap im Auftrag des Kinderhilf­swerks rund 1000 Erwachsene befragte.

Thomas Krüger, Präsident des Kinderhilf­swerks und Chef der Bundeszent­rale für politische Bildung, hält das Ergebnis für besorgnise­rregend. Er warnte bei der Vorstellun­g der Studie davor, dass eine Gesellscha­ft „kippen“könnte, wenn mehr als 25 Prozent der Menschen den Glauben an etwas verlören´. Die Vizepräsid­entin des Bundestage­s, Petra Pau (Linke), teilt Krügers Sorgen. „Das ist ein Alarmsigna­l“, sagte sie. Rechtspopu­listen seien in Europa und weltweit auf dem Vormarsch: „Das birgt Gefahren für die Demokratie.“

Aber ist es wirklich so schlecht um die Zukunft bestellt? Können Kinder und Jugendlich­e heute keine Demokratie mehr? Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man einzelnen aktuellen Forschungs­ergebnisse­n Glauben schenkt. So fand beispielsw­eise die FriedrichE­bert-Stiftung im Jahr 2015 in einer Jugendstud­ie heraus, dass zwar 87 Prozent der befragten Jugendlich­en der allgemeine­n Idee der Demokratie zustimmen. Wird es aber konkreter, schwindet dieser Rückhalt. So haben der Umfrage zufolge nur 38 Prozent der Jugendlich­en Vertrauen in Parteien – einen der wichtigste­n Pfeiler der repräsenta­tiven Demokratie. Einen entscheide­nden Grund dafür sehen Experten darin, dass demokratis­che Institutio­nen heute in einem weitaus härteren Wettbewerb um die Freizeit von Jugendlich­en stünden. Die Angebote seien deutlich vielfältig­er als noch vor einigen Jahren. Und auch die viel beachtete Shell-Jugendstud­ie kam in ihrer jüngsten Ausgabe zu einem ähnlich ambivalent­en Ergebnis. Demnach stieg zwar das politische Interesse von Jugendlich­en zuletzt deutlich: Nach nur 30 Prozent im Jahr 2002 bezeichnen sich nun wieder mehr als 40 Prozent der jungen Bundesbürg­er im Alter von zwölf bis 25 Jahren als politisch interessie­rt. Gleichzeit­ig bleibt jedoch die Politikver­drossenhei­t Jugendlich­er hoch: Der Aussage „Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken“stimmten 69 Prozent der 15- bis 25-Jährigen in der Shell-Studie zu.

Grund für Pessimismu­s sehen Wissenscha­ftler dennoch nicht. Vielmehr werten sie die grundsätzl­ich positive Haltung zur Demokratie und die kritische Auseinande­rsetzung mit ihren Akteuren als Zeichen für Stabilität. „Eine Krise der Demokratie, in deren Hintergrun­d Präferenze­n für autoritäre oder radikal-undemokrat­ische Regierungs­systeme lauern, ist bei Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n in Deutschlan­d nicht zu erkennen“, schrieben etwa die Sozialfors­cher Wolfgang Gaiser, Martina Gille und Johann de Rijke im September 2016 in einem Fachaufsat­z zur Einstellun­g junger Menschen zur Demokratie.

Gestützt wird dieser Befund davon, dass seit einigen Monaten durchaus ein Bekenntnis vieler junger Menschen zu demokratis­chen Parteien zu beobachten ist – getrieben durch Impulse wie das aggressive­re Auftreten von Rechtspopu­listen, die Unzufriede­nheit mit der Politik des neuen US-Präsidente­n Donald Trump oder der Nominierun­g von SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz.

Professor Everhard Holtmann, Direktor am Zentrum für Sozialfors­chung der Universitä­t Halle-Wittenberg, sieht eine weitere positive Entwicklun­g: „Wir beobachten, dass sich der große Rückhalt für Demokratie bei Jugendlich­en in Ostund Westdeutsc­hland kaum mehr voneinande­r unterschei­det.“Einst sehr deutliche Unterschie­de seien heute kaum mehr existent. Ob es abweichend­e Zustimmung­swerte bei Deutschen mit Migrations­hintergrun­d gebe, könne derzeit anhand empirische­r Daten aber noch nicht seriös belegt werden, sagt Holtmann. Er plädiert dafür, die politische Bildung in allen Schulforme­n und auch bei der berufliche­n Weiterbild­ung wieder ernster zu nehmen. Neben der elterliche­n Erziehung sei Bildung der Schlüssel für demokratis­chen Rückhalt bei Jugendlich­en, sagt auch Kinderhilf­swerk-Chef Krüger.

 ?? FOTO: BUSSKAMP ?? Politische­s Engagement Jugendlich­er: Düsseldorf­er Schüler protestier­ten im Mai 2010 gegen die schwarz-gelbe Bildungspo­litik in Nordrhein-Westfalen.
FOTO: BUSSKAMP Politische­s Engagement Jugendlich­er: Düsseldorf­er Schüler protestier­ten im Mai 2010 gegen die schwarz-gelbe Bildungspo­litik in Nordrhein-Westfalen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany