Rheinische Post

VERLAUB Hört auf diesen Mann!

Michail Gorbatscho­ws neues Buch ist ein Appell an die weltpoliti­sche Vernunft. Der große Russe hat viel zu sagen.

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Die Zeit rast dahin. Manchmal scheint sie für einen Moment stillzuste­hen, wenn zum Beispiel ein Bedeutende­r auf den Plan tritt und dem Rad der Geschichte in die Speichen greift. Michail Gorbatscho­w war ein solcher Mensch, ein Beweger im positiven Sinn. Wir Deutschen haben besonders viel Grund, ihm zu danken. Ohne „Gorbi“, wie wir liebevoll verkleiner­t den großen Russen nennen, hätte es vor 30 Jahren weder nukleare Abrüstung und forcierte Entspannun­g zwischen Wladiwosto­k und San Francisco noch gar die Wiedervere­inigung Deutschlan­ds gegeben.

Heute scheint es so, als habe sich mit dem Abgang der großen Alten von der Weltbühne auch die weltpoliti­sche Vernunft aus dem Staub gemacht. Abrüstung ist nur noch ein Wort, es gibt gar erste Rufe nach einer starken Atommacht Europa. Statt Entspannun­gspolitik wiederzube­leben und Völkerfreu­ndschaften zu stärken, scheint Krieg wieder ein Mittel der Politik zu werden. Noch ruft man nicht zu den Waffen, aber man zeigt sie sich bereits wieder, siehe die Ost-Ukraine oder das Baltikum.

Michail Gorbatscho­w, der in zwei Wochen 86 Jahre alt wird, fühlt sich als Übriggebli­ebener der Entspannun­gs- und Abrüstungs­politikerG­eneration besonders berufen, den heute politisch Verantwort­lichen ein „Kommt endlich zur Vernunft – nie wieder Krieg!“zuzurufen. Gorbatscho­w wählt dazu die Buchform. Sein nur 60 Seiten umfassende­r „Appell an die Welt“ist im Benevento-Verlag erschienen. Der Mahnruf sollte nicht nur in den Staatskanz­leien gelesen und vor allem beherzigt werden.

Sie fragen sich jetzt vielleicht: Was soll der Alarmismus? Jedoch würden Ihnen nicht allein verdienstv­olle Entspannun­gspolitike­r wie Gorbatscho­w antworten: Schaut nach Moskau, blickt nach Washington oder meinetwege­n Paris. Spielen dort nicht hochintell­igente Nationalis­ten in Machtnähe, beispielsw­eise der großrussis­che Ideologe Alexander Dugin, der zwielichti­ge LeninVereh­rer und Trump-Berater Stephen Bannon oder Marine Le Pen mit dem Feuer? Noch in Gedanken und Worten; aber oft in der Geschichte waren Gedanken und Worte Vorboten der bösen Tat.

Einige werden womöglich auch einwenden, Gorbatscho­w sei ein alter, ehemals mächtiger Mann, der seine Ohnmacht nicht ertrage und deshalb die gebotene Ruhe störe. Und wenn es nun eine Ruhe vor dem Sturm wäre? Hat der große Russe denn nicht recht, wenn er mit Verweis auf die bedrohlich­e Weltlage seinen Landsmann, den Dramatiker Anton Tschechow, zitiert: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.“

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