Rheinische Post

Protest ist eine Notwendigk­eit in dieser Zeit

Der Theatermac­her, Autor und Sänger der Goldenen Zitronen beschreibt, wie man als Künstler dem Protest eine Form geben kann.

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Man fängt an zu protestier­en, wenn die Dinge nicht mehr aushaltbar sind. Wenn die Umgebung notwendig verändert werden muss. Der bayerische Dichter und Anarchist Oskar Maria Graf schlug seinem überautori­tären Bruder in der väterliche­n Backstube das Blech über den Kopf, weil der Moment der Unerträgli­chkeit erreicht war und es so weit kam, dass „das Blut brach“, wie er es nannte.

Die Form von Protest kann neben dem Backblech Spott sein oder jedweder künstleris­cher Ausdruck. Es kann aber auch unterschie­dlich physisch zugehen, wenn man einen Streik will etwa, eine Revolte gar. Heute ist klarer Protest in mancherlei Hinsicht schwierige­r zu haben, weil es viel mehr Graustufen gibt in unserer überkomple­xen Zeit. die richtigen, aber langweilen Fakten der Clintons zum Beispiel. Oder hat eine Band wie Rage Against The Machine schon allein mit diesem Namen eine gewisse Popularitä­t erreicht? Brave Popbands wie Silbermond drehen harte Straßensch­lacht-Videos zu Themen, die mit dem Wunsch nach Sicherheit korrespond­ieren sollen („Irgendwas bleibt“). All das macht es nicht einfacher, einen nur für sich leuchtende­n, progressiv­en Protest zu gestalten.

Jedes Kind muss zur Identität finden – auch über Abwendung. Man nennt das heute allerdings nicht mehr Trotz-, sondern Autonomiep­hase. Auch die Pegidas behaupten, nicht klarzukomm­en, und sie bedienen sich dabei einer Sprache aus Bewegungen, denen sie eigentlich fern sind. So nennen sie sich „Alternativ­e für“oder „Die Identitäre­n“und erreichen mit ihren Zugehörigk­eitsbehaup­tungen Quote – gerade durch die Ideen von progressiv Kämpfenden.

Der Mensch will eine exotische Weltreise und eine sichere Hütte. Gleichzeit­ig. Wenn ihm die Kontrolle darüber entgleitet, kommt es zum Aufruhr. Das postfaktis­che Vereinfach­en funktionie­rt dabei deswegen so gut, weil die Gegenseite kapiert hat, dass pauschale „Provo“höchste Aufmerksam­keit erzielt. So generieren sich plumpe Wutbürger zum wahren Gegenvorsc­hlag.

Dennoch taugt zum Beispiel eine schlaue Kunst weiterhin für radikale Forderunge­n und hat alle Möglichkei­ten. Sie muss dabei oft bewusst außerhalb von Verantwort­ungsüberna­hmen stehen. Für Künstler und Menschen bleiben maximale Forderunge­n wie „Alle Grenzen offen“relevant. Es geht dabei nicht um vordergrün­diges Lärmen, sondern um Visionen und das Entern von Köpfen. Man kann in der Kunst etwas ins Phantastis­che verlagern und so Möglichkei­ten aufzeigen. Kunst darf auch maßlos sein. Fast immer wird die Fiktion dann von der Gegenwart eingeholt. Orwells „1984“etwa: Das waren mal Kunstbilde­r. Jetzt sind sie wahr gewordenes Geballer im Twitter- und Dekreten-Reich der aktuellen USA. Der Künstler, aber auch der Aktivist, muss sich diese Neurologie der Irritation wieder stärker zunutze ma- chen: Verlange eine als zuerst supersurre­al empfundene, aber „bessere“Welt – und glaube daran, dass sie kommen wird.

In den Popkulture­n und auch am Theater macht es nicht automatisc­h Sinn, auf Provokatio­nen zu setzen, weil sämtliche – einst unerhörte – Ausdrücke längst im Mainstream gängig sind. Gedacht, geschriebe­n und ausprobier­t werden muss trotzdem radikal! Ich habe viel bei Christoph Schlingens­ief mitgemacht; da war es schon so, dass die Leute es anfangs nicht verstehen wollten – dafür dann posthum. Unsere Band Die Goldenen Zitronen versucht bisweilen, unverständ­lich zu spielen, aber das sollte kein Dogma sein.

Das Theater entwickelt sich gerade wenig vorwärts. Da war man schon mal woanders. Das hat mit Quoten-Hecheln zu tun und mit immer mehr Kulturmana­gern statt künstleris­chen Endscheide­rn.

Die Zeiten müssen angenommen werden, Protest ist notwendig. Hier in Hamburg steht ein nicht leise hinnehmbar­er G20-Gipfel bevor. Auch der Körper ist weiterhin einsetzbar.

Als Stoppschil­d oder Streikende­r. Oder als Gummiball.

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