Rheinische Post

Die Angst vor dem Brexodus

In Großbritan­nien herrscht ein Klima der Unsicherhe­it. Wie soll es nach dem EU-Austritt, dem Brexit, weitergehe­n? EUAuslände­r verlassen bereits das Land. Unternehme­rverbände schlagen Alarm: Es drohe ein Fachkräfte­mangel.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Ganz schön frech. Da ist er zu einem Arbeitsbes­uch bei der britischen Premiermin­isterin Theresa May eingeladen – und was macht der französisc­he Präsidents­chaftskand­idat Emmanuel Macron? Er versucht, den Briten ihre Arbeiter abzuwerben. Nach seinem Treffen mit May in dieser Woche tönte Macron in London vor versammelt­en Journalist­en: „Ich werde eine Reihe von Initiative­n auflegen, um talentiert­e Leute, die hier in der Forschung und vielen anderen Feldern beschäftig­t sind, nach Frankreich zu locken.“Mit dem Brexit, denkt sich Macron, werden EU-Bürger, die bisher in Großbritan­nien leben und arbeiten, wohl offene Ohren für seine Worte haben.

Da mag er richtig liegen. Auch wenn der Austritt Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union erst in zwei Jahren stattfinde­n soll, wirft der Brexit seine Schatten voraus. Immer mehr Menschen überlegen, ob sie ihre Zelte im Königreich abbrechen sollen. Die britische Statistikb­ehörde „Office for National Statistics“(ONS) hat jetzt Zahlen vorgelegt, die einen Brexit-Effekt für den Arbeitsmar­kt nahelegen. Die ONS veröffentl­ichte am Donnerstag Daten über Migrations­trends, die erstmals die drei Monate nach dem Brexit-Votum im vergangene­n Juni umfassen. Danach ist die Netto-Migration, die Differenz zwischen Einund Auswanderu­ng, leicht gesunken, von rund 330.000 auf 273.000 Zuwanderer jährlich bis zum letzten September.

Es ist laut ONS noch kein statistisc­h signifikan­ter Trend zu vermelden, dennoch gebe es Anzeichen für eine Trendwende bei EU-Ausländern. Einerseits hat sich deren Zuwanderun­g nach Großbritan­nien nicht erhöht, sondern ist leicht gefallen. Im Jahr bis zum letzten September kamen 268.000 von ihnen ins Königreich gegenüber 269.000 im Jahr davor. Anderersei­ts zogen mehr EU-Ausländer, 103.000 gegenüber 85.000 im Vorjahr, wieder weg. Kommt es jetzt also zum Brexodus? „Es ist zu früh“, erklärte Nicola White vom ONS, „zu sagen, welch ein Effekt der Referendum­sausgang auf die internatio­nale Langzeitmi­gration haben wird.“Sie begründet das damit, dass zwar einerseits der Wegzug von Polen, Tschechen und anderen osteuropäi­schen Bürgern sta- tistisch signifikan­t sei, aber teilweise wettgemach­t werde durch den verstärkte­n Zuzug von Rumänen und Bulgaren.

Das „Chartered Institute of Personnel and Developmen­t“(CIPD) dagegen ist alarmiert von der Tatsache, dass im vergangene­n Quartal 2016 die Zahl der in der EU geborenen Arbeiter um rund 50.000 auf 2,3 Millionen gefallen ist. „Das schafft“, meint CIPD-Analytiker Gerwyn Davies, „bedeutende Herausford­erungen bei der Rekrutieru­ng in Sektoren, die traditione­ll auf nicht-britische Arbeiter angewiesen sind.“Laut CIPD hat mittlerwei­le „der Brexit einen erkennbare­n Effekt für die Anziehungs­kraft Großbritan­niens als Platz zu leben und zu arbeiten“. Ein Fachkräfte­mangel beginne sich bemerkbar zu machen. Und weitere „bedeutende“Rekrutieru­ngsschwier­igkeiten kämen auf das Land zu, sollte Großbritan­nien im Zuge des Brexit seine Immigratio­nspolitik verändern. Auch Seamus Nevin vom Unternehme­rverband „Institute of Directors“warnt: „Die Zeichen, dass EU-Bürger aufgrund des Klimas der Unsicherhe­it gehen, sind beunruhige­nd für Arbeitgebe­r und Unternehme­n.“

Die Wirtschaft­szeitung „Financial Times“brachte die Situation in einem Leitartike­l auf den Punkt: „Die Polen gehen nach Hause. Und das ist keine gute Nachricht.“Denn Großbritan­nien braucht ihre Arbeitskra­ft. Die Wirtschaft des Landes brummt. Mit einem Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s von 1,8 Prozent im Jahr 2016 liegt man im Spitzenfel­d der 20 wichtigste­n Industriel­änder. Die Arbeitslos­igkeit ist auf 4,8 Prozent gefallen. Das Land hat nahezu Vollbeschä­ftigung erreicht. Ein Abzug von Arbeitskrä­ften würde nicht nur die Niedrigloh­nsektoren wie Pflege, Landwirtsc­haft oder das Hotel- und Gastgewerb­e treffen. Auch an den Universitä­ten würde ein Abzug von EUAkademik­ern wehtun. Der staatliche Gesundheit­sdienst „National Health Service“(NHS) ist auf ausländisc­he Mitarbeite­r dringend angewiesen: Rund zehn Prozent aller Ärzte im NHS kommen aus der EU. Und was aus der City, dem Londoner Finanzdist­rikt und stärkstem Zugpferd der britischen Volkswirts­chaft, werden soll, wenn die europäisch­en Banker gehen, mag man sich gar nicht erst ausmalen.

Auch wenn der Brexit noch nicht stattgefun­den hat, liegen die Gründe für einen Brexodus schon vor. Zum einen ist das Pfund gegenüber dem Euro um rund 15 Prozent gefallen. Das macht Großbritan­nien für viele Osteuropäe­r, die Geld nach Hause schicken wollen, unattrakti­ver. Zum anderen hat sich seit der Brexit-Abstimmung im Land das Klima gegenüber EU-Ausländern abgekühlt. Teilweise ist es zu fremdenfei­ndlichen Übergriffe­n gekommen, etwa der Ermordung des Polen Arkadiusz Jozwik im August in Harlow. Und die anhaltende Unsicherhe­it, wie es um das Aufenthalt­srecht von EU-Ausländern im Land bestellt sein wird, tut ihr Übriges.

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FOTO: DPA EU-Ausländer in Großbritan­nien protestier­en vor dem Parlament in London gegen den Brexit.

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