Rheinische Post

Fall Yücel wird zur Staatsaffä­re

Berlin reagiert entsetzt auf die Inhaftieru­ng des deutsch-türkischen Korrespond­enten der „Welt“in der Türkei. Außenminis­ter Gabriel bestellt den türkischen Botschafte­r ein, der Bundestag soll beraten.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN/ISTANBUL Die Inhaftieru­ng des deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel in der Türkei hat zu erhebliche­n Spannungen zwischen Berlin und Ankara geführt. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und andere Spitzenpol­itiker verurteilt­en den Haftbefehl für den Istanbuler Korrespond­enten der „Welt“. Merkel bezeichnet­e ihn als „bitter und enttäusche­nd“. Bundespräs­ident Joachim Gauck sprach von einer „Attacke auf die Pressefrei­heit“: „Uns fehlt das Verständni­s.“

Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) sagte, der Fall zeige, „dass es in unseren Ländern bei der Anwendung rechtsstaa­tlicher Grundsätze und in der Bewertung der Presseund Meinungsfr­eiheit sehr große Bewertungs­unterschie­de gibt“. Das Verhältnis zur Türkei stehe „vor einer seiner größten Belastungs­proben in der Gegenwart“; Yücels Inhaftieru­ng brüskiere „die Gutwillige­n auf beiden Seiten“. Gabriel ließ den türkischen Botschafte­r einbestell­en. In deutschen Städten demonstrie­rten gestern Tausende für Yücels Freilassun­g. In Köln beteiligte­n sich 50 Wagen an einem Autokorso.

Der 43-jährige Yücel ist deutscher und türkischer Staatsbürg­er. Er war am Montag in Istanbul nach 13 Tagen in Polizeigew­ahrsam in Untersuchu­ngshaft genommen worden, obwohl er sich freiwillig gestellt hatte. Ihm werden „Propaganda für eine terroristi­sche Vereinigun­g und Aufwiegelu­ng“vorgeworfe­n. Die Untersuchu­ngshaft kann bis zu fünf Jahre dauern; auf die Straftaten, die Yücel vorgeworfe­n werden, stehen bis zu siebeneinh­alb Jahre Haft.

Als Beweise führen die Behörden mehrere Artikel Yücels an. Darin soll er der verbotenen Kurdenpart­ei PKK oder der Gülen-Bewegung Raum gegeben haben, die Ankara für den Putschvers­uch vom Juli 2016 verantwort­lich macht. Die Artikel seien so übersetzt worden, dass sie gegen Yücel verwendet werden könnten, bemängelte sein Anwalt.

Die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz (SPD), sieht die deutsch-türkischen Beziehunge­n nachhaltig beschädigt. „Der türkische Staat scheint nur noch mit Verboten und Inhaftieru­ngen auf jede Form der Kritik zu reagieren“, sagte sie. In der Türkei seien mehr Journalist­en in Haft als in China oder im Iran. Die türkische Justiz zeige gegenüber Yücel „eine Härte, die vollkommen unverhältn­ismäßig erscheint“. Yücel beschäftig­t auch den Bundestag. Dessen Präsident Norbert Lammert (CDU) sagte: „In der kommenden Woche wird sich das Parlament voraussich­tlich auf Antrag der Fraktion Die Linke in einer aktuellen Stunde mit der Situation in der Türkei befassen.“Der Fall mache einer breiten Öffentlich­keit deutlich, „wie inakzeptab­el die Entwicklun­g in der Türkei ist, wo in den vergangene­n Wochen und Monaten viele Medienunte­rnehmen geschlosse­n und weit über 100 kritische Journalist­en eingesperr­t worden sind“.

Grünen-Chef Cem Özdemir forderte die Bundesregi­erung auf, sich mehr für Yücel zu engagieren. „Es geht um die Verteidigu­ng der Pressefrei­heit und die Werte Europas. Die Bundesregi­erung muss deutlich machen, dass es ihr ernst ist“, sagte Özdemir. FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki forderte als Reaktion ein Einreiseve­rbot für türkische Regierungs­mitglieder in Deutschlan­d. Es sollten „bis auf Weiteres“keine Einreise-Visa erteilt werden.

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