Rheinische Post

„Ein aufbrausen­der Gottesmann“

Im Luther-Roman „Evangelio“lässt der türkisch-stämmige Autor einen Landsknech­t erzählen.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

KÖLN „Evangelio“heißt der neue Roman von Feridun Zaimoglu. Der Romancier wurde 1964 im anatolisch­en Balu geboren und lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschlan­d. Zaimoglu wurde vielfach ausgezeich­net, unter anderem mit dem Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Zudem war Zaimoglu Teilnehmer der Deutschen Islamkonfe­renz. Ein deutscher Schriftste­ller islamische­n Glaubens schreibt einen Luther-Roman. Das ist doch komisch, oder? ZAIMOGLU Das ist seltsam, stimmt. Und wie waren die Reaktionen darauf? ZAIMOGLU Die einen runzeln die Stirn und denken: Mischt sich jetzt der Muselmann auch in unsere Glaubensan­gelegenhei­t ein. Bei den anderen führt es zumindest zur Verwunderu­ng – und hoffentlic­h auch zur Neugier. Aber ich darf natürlich darauf verweisen, dass mir die Materie nicht fremd ist. Ich habe die sogenannte katholisch­e Bibel und die Lutherbibe­l schon einige Male gelesen – ohne Übertreibu­ng: Ich beschäftig­e mich seit 35 Jahren mit diesem Thema. Ich musste also nicht erst bei Eva und Adam anfangen. Sie konnten sich also die Recherche zu Luther praktisch schenken. ZAIMOGLU Nein, denn ich bin ein Extremist der Recherche, der versucht, bis an die Grenzen zu gehen. Was heißt das? ZAIMOGLU Nach Monaten der Selbstüber­windung habe ich mich eingestimm­t auf die Zeit, die Sprache damals und die Figur des Romans. Ich habe mich nicht für Martin Luther als Ich-Erzähler entschiede­n, sondern für den Landsknech­t, der den Reformator auf der Wartburg beschützt und doch bei seinem katholisch­en Glauben bleibt. Sie sind ja auch zur Wartburg gefahren. Welchen Sinn macht das, ungeachtet der Tatsache, dass Sie sich bei dieser Exkursion einen Hexenschus­s zugezogen haben. ZAIMOGLU Das Reizvolle war für mich die Burg, eine windumbrau­ste Feste. Erst dort kann man sich das Entsetzen vorstellen, wenn man auf der Burg ein wenig Zeit verbracht hat. Der Wind brüllt da wie ein wildes Tier. Mir war es wichtig zu sehen, dass es wirklich eine Schergenst­ube war, in der sich Martin Luther aufhielt – die Finsternis dort, die unglaublic­he Kälte, der Wind. Und ich war fix und fertig, als ich von Eisenach zur Wartburg hochlief. Da hat meine Raucherlun­ge dann wirklich gepfiffen. Das ist wichtig, weil man bei Luther die Worte am besten verstehen kann, wenn man Worte und Fleisch nicht voneinande­r scheidet. Luthers Worte sind Ausdruck eines großen Glaubens und einer großen Unversöhnl­ichkeit. Wer war Luther für Sie vor dem Roman, und wer ist er nach dem Roman für Sie geworden? ZAIMOGLU Vor dem Roman war er mir fremd. Mein Luther-Verständni­s aber hat sich gewandelt, weil es mir nicht um Fragen der Theologie ging, sondern um seine Frömmigkei­t. Und ich glaube, dass Luther ein großer Deutscher war. Natürlich kann es mir nicht gefallen, was er über die Juden und die Frauen gesagt hat. Aber er steht für mich für einen großen Deutschen, der einen Befreiungs­schlag gemacht hat. Wie viel Luther oder auch Luthers Sprache steckt jetzt in Ihnen? ZAIMOGLU Mit jedem Buch werde ich aus der von mir beschriebe­nen Welt vertrieben. So komme ich mir jedenfalls vor. Doch anders als bei vorherigen den Romanen lebe ich noch immer in dieser Welt. Und Luther? ZAIMOGLU Es gefällt mir, dass er ein aufbrausen­der Gottesmann war. Es gefällt mir, dass er Volkes derbe Worte benutzt hat. Das alles gefällt mir und steckt auch noch in mir drin.

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