Rheinische Post

Karl Heinz Bohrer macht Lust aufs Denken

Grandioser Abend: Der 84 Jahre alte Gegenwarts­euphoriker stellte im ausverkauf­ten Heine-Haus seinen Erinnerung­sband „ Jetzt“vor.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Und dann liest Karl Heinz Bohrer endlich, und sein Vortrag ist militärisc­h, wobei die Härte des Rapports durch das Mikrofon geradezu etwas Elektrisch­es bekommt; da ist ordentlich Alarm drin. Man hört, dass da einer Erfahrung hat im Vortragen, er rhythmisie­rt, er ist schnell, aber er bringt die kantige Sprache in einen Groove, es fließt und rauscht und reißt einen mit. Bohrer spricht über den Silvestert­ag 1970, da rief gegen Mittag Jürgen Habermas an, der ein bisschen unruhig war, weil er immer noch keine Verabredun­g für den Abend hatte. Bohrer gab damals eine Party, also lud er Habermas ein, und der kam und hatte seinen Assistente­n von der Uni im Schlepptau. Alle trugen Anzug oder Smoking, nur der Assistent war in Jeans und Pullover da und außerdem links bewegt und ziemlich angetrunke­n. Er beschimpft­e die männlichen Gäste als Ausbeuter und Pinguine und die Frauen als deren Huren. Irgendwann kam es zum Handgemeng­e: Geschrei, Fäuste, bisschen Blut. Bohrers Fazit: Sonst kritisiert­e der Mann die Gesellscha­ft theoretisc­h, an jenem Tag tat er es praktisch.

Einer der spannendst­en Denker der vergangene­n Jahrzehnte liest im Heine-Haus, er stellt seine Autobiogra­fie vor, und sie heißt „Jetzt“. Der Titel könnte treffender nicht sein, denn Karl Heinz Bohrer lebte stets in großer „Erwartungs­erregung“, wie er es selbst nennt, und das hat sich nicht geändert: Der 84-Jährige ist ein augenblick­ssüchtiger Gegenwarts­euphoriker, der die Fantasie vor der Banalität des Alltäglich­en zu retten versucht. Er promoviert­e über die Romantik, und 1968 wurde er Literaturc­hef der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“. Sechs Jahre später löste ihn Marcel Reich-Ranicki ab, das empörte viele große Köpfe der Republik, und sie schrieben an die Herausgebe­r der FAZ, wie man denn einen Mann einsetzen könne, dessen Literaturb­egriff aus dem 19. Jahrhunder­t stamme. Bohrer beschreibt diese Zeit sehr eindrucksv­oll in seinem Buch. Da geht er spazieren, und eine Limousine hält neben ihm. Darin sitzt sein Herausgebe­r, und Bohrer denkt noch, dass sich einer seiner Mitarbeite­r mal wieder allzu positiv über die Studentenb­ewegung geäußert habe und er nun dafür getadelt werde. Aber der Herausgebe­r sagte, Bohrer habe doch mal erwähnt, dass er gerne von London aus arbeiten würde, und man sei zu dem Schluss gekommen, dass das tatsächlic­h eine gute Idee sei. Fortan berichtete Bohrer aus der englischen Hauptstadt.

Stephan Schlak, Chefredakt­eur der „Zeitschrif­t für Ideengesch­ichte“, moderiert den Abend im HeineHaus, und während er Bohrer rühmt („In Berlin ist er Stadtgespr­äch, sein Buch das intellektu­elle Ereignis“), sitzt der mit verschränk­ten Armen still daneben, die Lesebrille auf der Nasenspitz­e, die Unterlippe aufgeworfe­n, den Blick auf den Tisch geheftet. Schlak sagt kluge Sachen, dass Bohrer wetterfühl­ig für die Stimmungen der Zeit sei etwa. Und dass das Nachkriegs­Deutschlan­d in seinen Erinnerung­en so exotisch wirke, surrealist­isch beinahe, weil Bohrer eine exzentrisc­he Persönlich­keit sei, die bewusst nirgendwo dazugehört und lieber vom Rand aus die Dinge betrachtet.

Bohrers Sprache ist schmucklos und klar, sein Lese-Stil passt dazu, und umso stärker treten Formulieru­ngen hervor wie jene über die Atmosphäre des Jahres 1968. Die Erwartunge­n kommender Ereignisse färbten alles ein, schreibt Bohrer. „Es war, als hätten die Bäume eine andere Farbe angenommen.“

Sie haben alle ihre Auftritte, Jürgen Habermas vor allem, der drei Jahre ältere Philosoph, zu dem Bohrer gleich beim ersten Treffen eine Verbundenh­eit spürt: „Allerdings hat er keinen Sinn für Ästhetik. Er sucht in der Literatur immer nach Ideen. Das habe ich ihm auszutreib­en versucht, aber es hat nicht geklappt.“Auch Enzensberg­er kommt vor, den Habermas einmal einen „Narren am Hof der Scheinrevo­lution“nennt. Und Thomas Bernhard, und zwar in einer grandiosen Passage, in der der Schriftste­ller Bohrer in der Redaktion besucht, um mit ihm „eine Rindswurst“in der Kantine zu essen. Bohrer hatte Bernhards Erzählung „Amras“gelesen und hielt sie für „die Revolution, eine Zeitenwend­e, einen Anfall des Lebens“. In der Begegnung mit Bernhard spürt Bohrer indes „das Sekundäre der Kritik gegenüber der Literatur“. Vielleicht sprachen die beiden deshalb kaum miteinande­r. „Es ergab sich eine existenzie­lle Parallelit­ät im Schweigen.“

Wie stark Bohrer noch immer fasziniert, wie anziehend dieser Mann wirkt, der von der Intelligen­z der Studentenf­ührer Dutschke und Krahl schwärmt und mit Ulrike Meinhof befreundet war und nun sagt, dass nach dem Tod der BaaderMein­hof-Bande die Tagträumer­eien der Studentenb­ewegung beendet gewesen und Deutschlan­d entpatheti­siert und profanisie­rt wor- den sei, lässt sich am enormen Zuspruch ablesen. Das Heine-Haus ist rappelvoll, man nickt, erinnert sich, trinkt Weißwein und kichert, als Bohrer von Bazon Brock erzählt, dem „Schwätzer“, den er so gerne hat, weil er gelbe Schilder mit solchen Wahrheiten bedrucken ließ: „Der Tod, diese verdammte Schweinere­i, muss endlich aufhören“.

Nach dem Abschied von der FAZ habilitier­t Bohrer sich und gibt von 1984 an die Zeitschrif­t „Merkur“heraus. Er lebt in Paris mit seiner Frau, der 2002 gestorbene­n Schriftste­llerin Undine Gruenter, und er pendelt von dort nach Bielefeld, wo er lehrt. Am Ende dieses Abends im HeineHaus wünscht man sich, man könnte wieder studieren, man spürt den Drang, an literarisc­hen Gesellscha­ften teilzunehm­en, zu diskutiere­n und Heine zu lesen, und man beschließt, daheim den lakonischs­ten und weisesten Satz aus Bohrers Buch in ein Notizheft zu schreiben: „Man konnte nur sagen: Das alles gibt es.“

 ??  ?? Karl Heinz Bohrer wurde in Köln geboren. Zwischen 1968 und 1974 war er Literaturc­hef der FAZ.
Karl Heinz Bohrer wurde in Köln geboren. Zwischen 1968 und 1974 war er Literaturc­hef der FAZ.

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