Rheinische Post

Extrem laut und unglaublic­h nah

In der Kunsthalle zeigten Billinger und Schulz „We Dance For You“.

- VON KLAS LIBUDA

Wer einmal erfahren möchte, was Nähe bedeutet, sollte heute oder morgen in die Kunsthalle gehen. Denn dort zeigt das Choreograf­enDuo Billinger und Schulz eine neue Arbeit, und darin ist dauernd Jetzt. Fast anderthalb Stunden wird man vollgedröh­nt mit Trash-TV-Soundschni­pseln, Donald Trump und Andrea Berg. Und ihre Bühne haben sie quadratisc­h in der Mitte des Raums aufgestell­t wie einen Boxring, keinen Meter davon sitzt man entfernt.

Jedes Zittern in den Waden, jede Schweißper­le sieht man nun also, und wenn sich die Performer zuweilen in eine der Ecken im Ausstellun­gsraum verziehen, sieht man sie dort aus großen Wasserflas­chen trinken. Das ist eine ungewohnte Seherfahru­ng: Unmittelba­rkeit. Auch wenn sich die fünf Tänzer – Jungyun Bae, Léonard Engel, René, Alejandro Huari Mateus, Frank Koenen und Sanna Lundström – sehr darum bemühen, sich so unbeeindru­ckt wie möglich zu geben. Kaum etwas bleibt hier verborgen, nicht einmal die Reaktion der Zuschauer. Denn auf der anderen Seite, gegenüber, sitzen ja auch welche, die spie- geln gewisserma­ßen den eigenen Blick. Man sieht Menschen, in denen es arbeitet, gebannte Blicke und ratlose Gesichter, denn alles in „We Dance For You“, dem zweiten Teil der „Unlikely Creatures“-Trilogie von Billinger und Schulz, erschließt sich nicht.

Weil auf der Bühne pausenlos Betrieb ist, weil sich Szenen von Annäherung und Bilder der Gewalt abwechseln, weil zwischendu­rch irgendein kaum erträglich­er Festzeltha­mmer von Andreas Gabalier läuft und ein Schuhplatt­ler mit Showtanz gekreuzt wird, bleibt kaum Zeit, mal etwas zu verarbeite­n. Für „We dance for you“haben Billinger und Schulz Flicken zum Teppich verwoben, selbst die Kleidung der Performer sieht aus wie ein Best-of aus der Kleiderkam­mer, im Sound vermischt sich Populäres mit Politische­m. Da werden eben die Pophits gespielt, und Computerst­immen tragen Verrisse des Choreograf­enDuos vor. Sie bringen die Tonspuren in Dauerschle­ife, und zuweilen ist man sich dann nicht mehr ganz sicher, ob sich nun doch etwas verändert hat oder die Sinne beginnen, einen zu täuschen. So wird aus „Sie rennen“plötzlich „Sie ringen“, andere wollen „Sirenen“verstanden haben und einmal sagt die Robotersti­mme „Syrien überall“, da bricht dann die Wirklichke­it ein, bevor einem kurz vor Schluss auch noch Hören und Sehen vergeht. Denn da setzt ein Schlagzeug-Geballer ein, das Licht geht aus, Stroboskop-Blitze zucken, dass es bald an den eigenen Kräften zerrt. Man fühlt sich wie weggeblase­n. Das führt dazu, dass sich später Grüppchen vor der Kunsthalle zusammenfi­nden, um das Gesehene zu beraten.

Anregend ist dieser Abend also allemal.

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FOTO: FLORIAN KRAUSS Szene aus „We Dance For You“von Billinger und Schulz.

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