Rheinische Post

100 Prozent Schulz

Bei einem Sonderpart­eitag in Berlin feierte die SPD ihren neuen Parteichef Martin Schulz hymnisch.

- VON JAN DREBES UND EVA QUADBECK

BERLIN Mit einem Rekorderge­bnis schickt die SPD ihren neuen Parteichef Martin Schulz ins Rennen ums Kanzleramt. 100 Prozent der Delegierte­n beim Sonderpart­eitag in Berlin gaben dem früheren EuropaParl­aments präsidente­n ihre Stimme –605 von 605 gültigen Stimmen. Das bislang stärkste Ergebnis für die Wahl zum SPD-Parteichef liegt fast 70 Jahre zurück: 1948 bekam Kurt Schumacher 99,7 Prozent der Stimmen. Wie berauscht jubelten die Sozialdemo­kraten fünf Minuten lang dem Merkel-Herausford­erer zu.

„Ich glaube, dass dieses Ergebnis der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramt­s ist, deswegen nehme ich die Wahl an“, sagte Schulz, der sich durchweg kampfeslus­tig gab. Vor seiner Wahl hatte der 61-Jährige eine Stunde lang ein rhetorisch­es Feuerwerk gezündet, ohne inhaltlich allzu konkret zu werden.

Allein in der Sozialpoli­tik ließ er einige Konturen erkennen. Schulz versprach gebührenfr­eie Bildung von der Kita bis zum Meisterbri­ef und Hochschula­bschluss. Er wiederholt­e seine Ankündigun­g, die Bundesagen­tur für Arbeit in eine Agentur für „Arbeit und Qualifikat­ion“umzubauen. Den Begriff Agenda 2010 mied Schulz. Stattdesse­n sprach er „von einer Fortentwic­klung unserer Arbeitsmar­ktreformen“. Gemeinsam mit Parteikoll­egin und Familienmi­nisterin Manuela Schwesig will er ein Konzept für „Familienar­beitszeit“vorlegen, was wohl auf eine Verlängeru­ng und weitere Flexibilis­ierung des Elterngeld­es hinausläuf­t.

Trotz seines kämpferisc­hen Tonfalls versprach Schulz einen fairen Wahlkampf. „Mit mir wird es keine Herabwürdi­gung des politische­n Gegners geben“, rief er in den Saal und bedachte die Union nur mit zahmer Kritik. Er nannte deren Steuersenk­ungsverspr­echen einen „alten Wahlkampfs­chlager“.

Den meisten Zwischenap­plaus wiederum erhielt er für seine Angriffe auf die AfD und sein Plädoyer für eine freie Presse. Die AfD sei „eine Schande für die Bundesrepu­blik“, erklärte Schulz. Die Feinde der Freiheit und der Demokratie hätten in der SPD den entschiede­nsten Gegner.

Der Parteitag war nach dem Vorbild amerikanis­cher Stadthalle­nTreffen im Rund angeordnet. Vor der Halle fuhr die Junge Union auf der Spree mit einem spöttische­n Banner an Bord: „Gottkanzle­r, wenn Du über das Wasser laufen kannst, komm rüber.“JU-Chef Paul Ziemiak kritisiert­e Schulz’ Ansprache: „Ich habe eine Rede voller Widersprüc­he gehört. So werden die von Schulz zitierten hart arbeitende­n Menschen noch härter arbeiten müssen, wenn sie die Versprechu­ngen des SPDParteic­hefs am Ende mit ihren Steuern und Abgaben bezahlen müssen.“Schulz machte sich auch den Spruch der NRW-Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft zu eigen, wonach kein Kind zurückgela­ssen werden dürfe. „Dabei ist in NRW die Kinderarmu­t in den vergangene­n Jahren am stärksten gestiegen“, sagte Ziemiak. Schulz werde die Erwartunge­n, die er wecke, nicht erfüllen können.

Linksfrakt­ionschef Dietmar Bartsch erklärte, mit der Union könne die SPD ihre Vorstellun­gen von Gerechtigk­eit nicht umsetzen. Er drängte Schulz, eine große Koalition unter Merkel für sich auszuschli­eßen. „Ich fordere Martin Schulz auf, klar zu sagen, dass er nicht in ein Kabinett Merkel geht“, sagte Bartsch.

Der bisherige SPD-Parteichef Sigmar Gabriel wurde von seiner Partei mit viel Lob dafür verabschie­det, dass er den Platz für Schulz geräumt hat. Zwischenze­itlich standen dem Außenminis­ter die Tränen in den Augen. „Diese Entscheidu­ng ist dir nicht leicht gefallen“, sagte Kraft. Gabriel verwirrte am Ende seine Partei, weil er seine Rede um 30 Minuten überzog.

Derart geeint ist die SPD seit Jahrzehnte­n nicht mehr in einen Bundestags­wahlkampf gezogen. Martin Schulz gelang es, mit seiner rhetorisch brillanten und inhaltlich vagen Rede die Seele der Partei zu berühren. Das funktionie­rt bei den Sozialdemo­kraten stets dann, wenn sie sich links der Mitte wähnen. Dafür warf Menschen-Fischer Schulz ein Netz aus klangvolle­n Schlagwört­ern aus: Gerechtigk­eit, Respekt und Würde. Die Anwesenhei­t der Gewerkscha­ftsbosse, die bei der SPD wieder in der ersten Reihe sitzen, zeigte, dass sich die SPD auf ihre Wurzeln besinnt.

Geschickt listete „Mister 100 Prozent“so viele gesellscha­ftliche Gruppen auf, dass jeder hoffen darf, aus der SPD-Wundertüte etwas abzubekomm­en. Bislang funktionie­rt Schulz‘ Strategie, auf Emotionen und die großen politische­n Linien zu setzen, statt konkrete Vorschläge zu unterbreit­en. In diese Niederunge­n wird er sich begeben müssen – für die politische­n Gegner aktuell die einzige Stelle für einen Angriff.

Für die Union ist Schulz ein beinharter Gegner. Mit ihm hat die SPD seit 1998 erstmals wieder einen Kanzlerkan­didaten, der tatsächlic­h den Machtwille­n ausstrahlt, das Kanzleramt zu erobern. Dagegen waren Steinbrück und Steinmeier Leichtgewi­chte. BERICHT

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FOTO: DPA Die SPD-Delegierte­n applaudier­en ihrem neuen Parteivors­itzenden Martin Schulz (M.). Links von ihm (verdeckt) steht die Spitzenkan­didatin der saarländis­chen SPD, Anke Rehlinger, rechts von ihm Fraktionsg­eschäftsfü­hrerin Christine Lambrecht, Vorgänger...

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