Europareise
Rom, Anfang März 1957
Mit ernster Miene tritt der italienische Ministerpräsident Antonio Segni vor die Kameras der Wochenschau. „Dies ist ein äußerst trauriger Moment“, verkündet der Christdemokrat, „für Italien – und für Europa.“Fast drei Jahre lang hatten die sechs Mitglieder der Montanunion – Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – verhandelt, um eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen. „Wir standen kurz vor dem Durchbruch“, sagt Segni. Man habe sogar bereits einen Saal im Kapitolspalast für die feierliche Unterzeichnung der Urkunden herrichten lassen. Doch dann seien die Gespräche in letzter Minute doch noch gescheitert. Er wolle keine Schuldzuweisungen erteilen, beteuert Segni. „Ich hoffe, wir können die Verhandlungen irgendwann wieder aufnehmen.“
Düsseldorf, Anfang März 2017
Mit ernster Miene studiert Erasmus Müller eine Straßenkarte von Europa. Er hat sich freigenommen, um den Familienurlaub vorzubereiten. Morgen soll es losgehen. Es war nicht leicht gewesen, ein passendes Ziel zu finden. Eine Flugreise kam nicht infrage – viel zu teuer. Die Preise der Lufthansa sind einfach unverschämt, und günstigere Alternativen gibt es nicht. Also mit dem Auto. Der Wagen der Müllers ist schon recht betagt, und mit seinen Abgaswerten darf er in den skandinavischen Ländern gar nicht fahren. Das hat die Auswahl schon mal eingeschränkt. Aber nach drei Jahren Urlaub an der Nordsee sollte es endlich mal wieder ins Ausland gehen. „Italien!“, hatte seine Frau gefordert.
Von der Internetseite seines Autoclubs hat Müller Reiseinformationen heruntergeladen, das hat ziemlich lange gedauert. Angeblich hat die Deutsche Telekom ja kein Geld, um endlich ihr Netz auszubauen. „Kann denen ja auch egal sein“, grummelt Müller, „die haben ja noch immer ein Monopol.“Vor ihm auf dem Tisch liegen jetzt Formulare für den Zoll und praktische Umrechnungstabellen von Mark in Lira. Bei der Bank war er auch schon, um dicke Bündel der italienischen Währung einzutauschen. Die saftigen Abhebungsgebühren von 20 Mark an italienischen Bankautomaten will sich Müller sparen. Und weil die Route durch die Schweiz führt, musste er auch etwas Geld in Schweizer Franken und Tankgutscheine umtauschen.
Erasmus Müller liebt Italien. Aber das stundenlange Warten auf die Abfertigung an der Grenze, das nervt ihn gewaltig. Und erst auf der Rückfahrt! Beim letzten Italien-Urlaub vor sechs Jahren wollte seine Frau unbedingt Parmaschinken mitbringen, der in Deutschland absolut unerschwinglich ist. Die italienischen Zöllner waren ja sehr freundlich, aber die Prozedur hatte ewig gedauert. Gottlob haben die Staaten der Montanunion sowie die Schweiz den Visazwang abgeschafft. „Sonst wäre es ja wie im Mittelalter!“, denkt Müller. Trotzdem musste er für die Kinder neue Reisepässe besorgen, weil Personalausweise immer noch nicht von allen Nachbarländern anerkannt werden.
Auf einer langen Liste hat Müller weitere Dinge notiert, die für den Urlaub erledigt werden müssen: zum Beispiel Adapter einpacken, weil die deutschen Stecker in keine italienische Steckdose passen. Die Kinder werden zwar maulen, aber deren Smartphones müssen zu Hause bleiben. „Sonst zahlen wir noch wochenlang die Roaming-Gebühren ab“, hatte seine Frau gewarnt. Sie hat im Internet eine Zusammenstellung mit Badestränden gefunden, deren Wasserqualität überwacht wird. Müller hat zwar kein rechtes Vertrauen in die ita- lienischen Tests, die nach ganz anderen Kriterien durchgeführt werden als die deutschen. Aber so ist es ja auch in allen anderen Ländern. Sicherheitshalber hat die Familie Müller eine Reisekrankenversicherung abgeschlossen, weil die deutsche Krankenkasse leider für Behandlungen im Ausland nicht aufkommt.
„Morgen bin ich wirklich urlaubsreif“, denkt Müller. Aber er freut sich auf die Fahrt in den Süden, weil auch der älteste Sohn der Familie diesmal mit von der Partie ist. Der junge Mann studiert zwar schon, Maschinen- bau in Aachen, aber er hat es nicht eilig mit einem Abschluss. „Kein Wunder“, seufzt Müller. Ingenieure sind in Deutschland derzeit nicht gefragt. Seit die D-Mark nach der Finanzkrise stark aufgewertet hat, ist die Nachfrage nach deutschen Waren eingebrochen. Maschinen gibt es anderswo viel billiger, in China vor allem, aber auch in Frankreich oder Italien. Dort suchen sie händeringend Fachleute, hat Müller in der Zeitung gelesen, aber deutsche Diplome werden nicht anerkannt, und auch eine Arbeitserlaubnis gibt es für Ausländer nur selten. Auch Müllers Tochter möchte nach ihrem Abitur studieren. Sie hat sich schon erkundigt, ob sie auch ein paar Semester an einer englischen Universität verbringen kann, aber das ist unmöglich. Studenten aus dem Commonwealth werden zugelassen, aus Deutschland dagegen nicht. Müller reißt sich aus den trüben Gedanken. Er muss noch Einkäufe erledigen. Im Supermarkt um die Ecke kauft er Käse. Das geht schnell, die Auswahl ist ziemlich übersichtlich. Eigentlich gibt es nur deutsche und holländische Ware. Vor dem Obst- und Gemüseregal schwirren ihm wie immer die Augen. Aber zur Feier des Tages legt er neben zwei krummen Salatgurken auch noch fünf Kiwis aus Spanien zu je drei Mark in seinen Korb. Müller hat gehört, dass mehr als die Hälfte des Preises auf die hohen Transportkosten und Einfuhrzölle zurückzuführen ist. „Kiwi-Liebhaber müssen eben in Spanien leben“, hat unlängst ein Bauern-Funktionär im Fernsehen gesagt. Dabei können Deutschlands Landwirte wirklich nicht klagen. Die Agrarsubventionen sind einer der größten Posten im Bundeshaushalt. Überhaupt gibt es für viele Branchen Fördergeld vom Staat. Und weil die Kassen leer sind, wird an der Steuerschraube gedreht. Mit einem Mehrwertsteuersatz von 26 Prozent liegt Deutschland in Europa inzwischen an der Spitze. „Die Wiedervereinigung ist eben nicht gratis“, denkt Müller. Der Milliardenkredit, den Helmut Kohl Mitte der 90er Jahre in Frankreich ausgehandelt hatte, war da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Immerhin haben die Franzosen mit ihrem Atomstrom geholfen, als es in Süddeutschland unlängst mal wieder zu einem Blackout gekommen ist. Trotzdem steht die nach dem Reaktorunglück von Fukushima verkündete Energiewende in Deutschland vor dem Aus. Die stark schwankende Produktion von Wind- und Solarkraftanlagen lässt sich auf dem nationalen Strommarkt einfach nicht auffangen. Müller fischt trotzdem eine 100-Watt-Glühbirne aus dem Regal. Er braucht viel Licht, wenn er heute Abend im Bett noch im Reiseführer schmökern will. „Urlaub in Europa ist immer noch ein echtes Abenteuer“, sagt er sich. Matthias Beermann
Es ist dann doch anders gekommen: Heute vor 60 Jahren wurden die Römischen Verträge unterzeichnet. Wie die EU jetzt aussieht und was vielleicht einmal aus ihr wird, erzählen wir in Berichten, Porträts und Illustrationen auf den