An die Schlosskirche hat Martin Luther seine 95 Thesen nie genagelt. Trotzdem hat der wütende Professor aus Wittenberg eine Bewegung ausgelöst, die niemand stoppen konnte. Weil die Zeit dafür reif war.
Der junge Doktor der Theologie durchquert festen Schrittes die Wittenberger Altstadt; im schwarzen Rock, mit einem Hammer in der Hand. Voller Wut auf Papst und Klerus nagelt er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche.
Auch wenn das Ereignis historisch nicht zu belegen ist, hat es sich ins nationale Gedächtnis der Deutschen eingebrannt, wie ein Spielfilm, den man oft gesehen hat: Der Thesenanschlag Martin Luthers ist zum Gründungsmythos der evangelischen Kirche geworden; zum Grundstein für die deutsche LutherErzählung: der Nationalheld, der Rebell, „der erste Wutbürger“, wie der „Spiegel“ihn genannt hat.
Dabei war Luther 1517 nicht viel mehr als ein unbekannter Theologe. Das Kirchenoberhaupt war gleichzeitig Herr über den Kirchenstaat.
Die Menschen in der Gesellschaft um 1500 zitterten vor dem Fegefeuer, hatten Angst vor dem Teufel und erwarteten den Weltuntergang. Deswegen investierten sie in ihr Seelenheil, kauften Ablassbriefe, pilgerten zu Wallfahrtsorten. Die es sich leisten konnten, stifteten Altäre oder Kunstwerke für die Kirchen, bezahlten Priester, die Privatmessen halten und an ihrer statt für ihr Seelenheil beten sollten. Von der Ablasspraxis der Kirche profitierte nicht nur der Papst, sondern auch die Kirchenfürsten vor Ort.
Die Zeit um 1500 war geprägt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Denn parallel entwickelten sich die Städte im Reich zu Zentren des Handels und der Bildung. Ein frühkapitalistisches Wirtschaftssystem entstand, die Familie Fugger aus Augsburg finanzierte durch ihr Kreditgeschäft den Kaiser und den Heiligen Stuhl gleichermaßen. 1492 hatte Kolumbus Amerika entdeckt. Die Renaissance fand ihren Weg ins Reich. Der Humanismus mit dem Ideal eines gebildeten Menschen mit freiem Willen löste eine Bildungsoffensive aus. Und so wurden gerade die Städte Schauplätze der Reformation. Die historische Forschung spricht daher von der Reformation als „urban event“.
Luthers Rechtfertigungslehre und seine Skepsis gegenüber kirchlicher Eliten zielten darauf ab, zu den Ursprüngen der Kirche zurückzukommen. „Reformation“bedeutet wörtlich Wiederherstellung. Für ihn war allein die Bibel wahr, und zwar so, wie er sie auslegte.
Luther war Fundamentalist. Nicht einer, der Kirchen in Brand steckt und Altäre zertrümmert, sondern einer, der sich auf die Ursprünge des Christentums besinnt und die Kirche als gewachsene Institution und ihr Heilsmonopol in Frage stellt. Damit waren seine Thesen von Anfang an ein Affront für die Kirche. Rom sah in Luther nur einen „Barbaren“, der sich anmaßte, die Kirche herauszufordern.
Der Papst im fernen Rom und seine Stellvertreter im Reich stigmatisierten Luther von Beginn an als Ketzer. Das und die Wittenberger Druckerei trugen dazu bei, dass sich seine Schriften rasend schnell verbreiteten. „Luther war ein Mediengenie. Er war das Sprachrohr seiner Zeit“, sagt Volker Reinhardt. „Er erfand mit dem illustrierten Flugblatt ein neues Medium und publizierte in einer Dichte, die selbst heute noch beeindruckt.“
Mit Luthers Schriften entstand eine Dynamik, die mit dem Augsburger Religionsfrieden in das konfessionelle Zeitalter mündete: Im Jahr 1555 wurde die evangelische Konfession endgültig anerkannt und festgelegt, dass künftig der Fürst über die Konfession seiner Untertanen entscheiden durfte. Eine Entwicklung, die der rebellische Professor aus Wittenberg am 31. Oktober 1517 sicher nicht vorausgesehen hatte.