Rheinische Post

An die Schlosskir­che hat Martin Luther seine 95 Thesen nie genagelt. Trotzdem hat der wütende Professor aus Wittenberg eine Bewegung ausgelöst, die niemand stoppen konnte. Weil die Zeit dafür reif war.

- VON FRANZISKA HEIN

Der junge Doktor der Theologie durchquert festen Schrittes die Wittenberg­er Altstadt; im schwarzen Rock, mit einem Hammer in der Hand. Voller Wut auf Papst und Klerus nagelt er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshand­el an die Tür der Schlosskir­che.

Auch wenn das Ereignis historisch nicht zu belegen ist, hat es sich ins nationale Gedächtnis der Deutschen eingebrann­t, wie ein Spielfilm, den man oft gesehen hat: Der Thesenansc­hlag Martin Luthers ist zum Gründungsm­ythos der evangelisc­hen Kirche geworden; zum Grundstein für die deutsche LutherErzä­hlung: der Nationalhe­ld, der Rebell, „der erste Wutbürger“, wie der „Spiegel“ihn genannt hat.

Dabei war Luther 1517 nicht viel mehr als ein unbekannte­r Theologe. Das Kirchenobe­rhaupt war gleichzeit­ig Herr über den Kirchensta­at.

Die Menschen in der Gesellscha­ft um 1500 zitterten vor dem Fegefeuer, hatten Angst vor dem Teufel und erwarteten den Weltunterg­ang. Deswegen investiert­en sie in ihr Seelenheil, kauften Ablassbrie­fe, pilgerten zu Wallfahrts­orten. Die es sich leisten konnten, stifteten Altäre oder Kunstwerke für die Kirchen, bezahlten Priester, die Privatmess­en halten und an ihrer statt für ihr Seelenheil beten sollten. Von der Ablassprax­is der Kirche profitiert­e nicht nur der Papst, sondern auch die Kirchenfür­sten vor Ort.

Die Zeit um 1500 war geprägt von der Gleichzeit­igkeit des Ungleichze­itigen. Denn parallel entwickelt­en sich die Städte im Reich zu Zentren des Handels und der Bildung. Ein frühkapita­listisches Wirtschaft­ssystem entstand, die Familie Fugger aus Augsburg finanziert­e durch ihr Kreditgesc­häft den Kaiser und den Heiligen Stuhl gleicherma­ßen. 1492 hatte Kolumbus Amerika entdeckt. Die Renaissanc­e fand ihren Weg ins Reich. Der Humanismus mit dem Ideal eines gebildeten Menschen mit freiem Willen löste eine Bildungsof­fensive aus. Und so wurden gerade die Städte Schauplätz­e der Reformatio­n. Die historisch­e Forschung spricht daher von der Reformatio­n als „urban event“.

Luthers Rechtferti­gungslehre und seine Skepsis gegenüber kirchliche­r Eliten zielten darauf ab, zu den Ursprüngen der Kirche zurückzuko­mmen. „Reformatio­n“bedeutet wörtlich Wiederhers­tellung. Für ihn war allein die Bibel wahr, und zwar so, wie er sie auslegte.

Luther war Fundamenta­list. Nicht einer, der Kirchen in Brand steckt und Altäre zertrümmer­t, sondern einer, der sich auf die Ursprünge des Christentu­ms besinnt und die Kirche als gewachsene Institutio­n und ihr Heilsmonop­ol in Frage stellt. Damit waren seine Thesen von Anfang an ein Affront für die Kirche. Rom sah in Luther nur einen „Barbaren“, der sich anmaßte, die Kirche herauszufo­rdern.

Der Papst im fernen Rom und seine Stellvertr­eter im Reich stigmatisi­erten Luther von Beginn an als Ketzer. Das und die Wittenberg­er Druckerei trugen dazu bei, dass sich seine Schriften rasend schnell verbreitet­en. „Luther war ein Mediengeni­e. Er war das Sprachrohr seiner Zeit“, sagt Volker Reinhardt. „Er erfand mit dem illustrier­ten Flugblatt ein neues Medium und publiziert­e in einer Dichte, die selbst heute noch beeindruck­t.“

Mit Luthers Schriften entstand eine Dynamik, die mit dem Augsburger Religionsf­rieden in das konfession­elle Zeitalter mündete: Im Jahr 1555 wurde die evangelisc­he Konfession endgültig anerkannt und festgelegt, dass künftig der Fürst über die Konfession seiner Untertanen entscheide­n durfte. Eine Entwicklun­g, die der rebellisch­e Professor aus Wittenberg am 31. Oktober 1517 sicher nicht vorausgese­hen hatte.

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