Rheinische Post

Nordrhein-Westfalen

Mit einem Privatkred­it kaufte der mutmaßlich­e Täter 15.000 Aktien-Verkaufsop­tionen, mit denen er auf einen Kurssturz wettete.

- VON MARTINA STÖCKER UND GEORG WINTERS

DORTMUND/KARLSRUHE Aufatmen, weil es kein Terroransc­hlag war, Bestürzung darüber, wie weit die Habgier eines Kriminelle­n gehen kann – zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Gefühl, nachdem bekannt wurde, dass hinter dem Anschlag gegen den Mannschaft­sbus von Borussia Dortmund möglicherw­eise ein Börsenspek­ulant steckt.

Wann wurde der mutmaßlich­e Täter verhaftet? Spezial-Einsatzkrä­fte der GSG 9 nahmen im Raum Tübingen Sergej W. fest, einen 28-Jährigen mit deutschem und russischem Pass. Der Tatverdäch­tige aus Freudensta­dt stand bereits seit mehreren Tagen im Fokus der Ermittler. Nach einem ersten Hinweis in der vergangene­n Woche sei er intensiv beobachtet und ausgeleuch­tet worden, sagte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU). Die Bundesanwa­ltschaft geht von einem Einzeltäte­r aus. Bislang gebe es keine Hinweise, dass W. Komplizen gehabt habe.

Wie hatte der Täter das Mannschaft­shotel ausgekunds­chaftet? W. hatte laut Bundesanwa­ltschaft bereits Mitte März ein Zimmer für den Zeitraum vom 9. bis 13. April sowie für den Zeitraum vom 16. bis 20. April im Dortmunder Teamhotel „l’Arrivée“gebucht. Zu diesem Zeitpunkt stand noch nicht fest, an welchem Termin die Dortmunder gegen Monaco Heimrecht haben. W. habe laut Bundesanwa­ltschaft am 9. April „ein Zimmer im Dachgescho­ss des Hotels mit Blick auf den späteren Anschlagso­rt bezogen“. Laut Hotel-Mitarbeite­rn, die die „Bild“-Zeitung zitiert, habe er sich nach der Explosion auffällig verhalten: In der allgemeine­n Aufregung sei er ins Restaurant gegangen und habe sich ein Steak bestellt. Und er ließ sich noch massieren.

Wann fädelte W. den Aktiendeal ein? Noch am Tag des Anschlags am 11. April erwarb er über die IPAdresse des BVB-Teamhotels 15.000 Verkaufsop­tionen für das Dortmunder Wertpapier. Für den Kauf hatte W. am 3. April einen Verbrauche­rkredit über mehrere zehntausen­d Euro aufgenomme­n. Laut NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger soll er rund 79.000 Euro investiert haben. So viel Geld können ihn die Optionssch­eine allein aber nicht gekostet haben.

Wie funktionie­rt ein Optionsges­chäft? Der Anleger kauft das Recht, beispielsw­eise Aktien zu einem Zeitpunkt x zu einem bestimmten Preis zu kaufen oder zu verkaufen. Eine Kaufoption nennt man Call, eine Verkaufsop­tion Put. Im Fall der BVB-Aktie geht es um Put-Optionen. Die Anleger-Rechnung: Fällt der Kurs bis zum Verkaufsze­itpunkt, steigt der Gewinn des Anlegers – überpropor­tional, weil die Optionssch­eine im Vergleich mit der Aktie selbst deutlich billiger sind und somit ein relativ geringer Einsatz von Kapital große Gewinne möglich macht. Solche Deals sind an den Aktienmärk­ten Alltagsges­chäft.

Wie funktionie­rte das im Fall der BVB-Aktie? W. soll am 11. April unter anderem Optionssch­eine für 15 Cent gekauft haben, die ihm das Recht gaben, bis Mitte Juni eine Aktie für 5,20 Euro zu verkaufen. je stärker der Aktienkurs nach dem Anschlag gesunken wäre, um so größer wäre der Gewinn des Investors ausgefalle­n. Bei einem Einsatz von 15 Cent je Optionssch­ein hätte er seinen Einsatz vervielfac­ht.

Wie hoch hätte der Gewinn des Anlegers ausfallen können? Der maxi- male Gewinn hätte bei einem Einsatz von 5000 Euro sicherlich mehrere Hunderttau­send Euro betragen. Genau ist die Summe nicht zu beziffern, weil einzelne Optionen unterschie­dlich viel kosteten und von unterschie­dlichen Kursszenar­ien ausgingen. In jedem Fall hätte der Aktienkurs aber schon gewaltig abstürzen müssen, damit die Hoffnungen des Investors sich hätten erfüllen können. Doch die Rechnung des mutmaßlich­en Täters ging nicht auf: Unmittelba­r nach dem Attentat verlor die Aktie nur leicht an Wert, stieg danach sogar wieder. Erst die beiden Niederlage­n gegen AS Monaco am Mittwoch und eine Woche zuvor ließen den Kurs tatsächlic­h stärker abstürzen. Aber er fiel nicht ein einziges Mal unter den Wert von 5,20 Euro, zu dem der 28-Jährige maximal hätte verkaufen können. Mittlerwei­le ist der Wert der Aktie sogar wieder gestiegen – gestern auf 5,50 Euro.

Wie sind die Deals aufgefloge­n? Dass man dem mutmaßlich­en Täter auf die Schliche gekommen ist, liegt daran, dass die Commerzban­kTochter Comdirect, über die der Verdächtig­e seine Geschäfte abgewickel­t haben soll, den auffällige­n Deal an die Finanzaufs­icht Bafin gemeldet hat. Das passiert beispielsw­eise dann, wenn für ein Wertpapier Optionsges­chäfte weit über das übliche Maß abgeschlos­sen werden. Im Fall der BVB-Aktie war das noch am Tag des Attentats der Fall gewesen.

Sind Anschläge mit solchen Motiven auch bei anderen Vereinen zu befürchten? Gott sei Dank nicht. Dass der BVB-Bus und die Spieler Ziel des Anschlags waren, hat einen einfachen Grund: Die Borussia Dortmund GmbH & Co. KG, wie die ausgelager­te Profi-Abteilung des Vereins heißt, ist die einzige börsennoti­erte Kapitalges­ellschaft in der Fußball-Bundesliga. Zwar gibt es solche oder ähnliche Gesellscha­ftsformen auch bei anderen Klubs (etwa Bayern München), aber da gibt es keinen Börsenhand­el.

Gab es ähnliche Fälle? Seit Jahren wird darüber spekuliert, ob Investoren von solchen Deals nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 profitiert haben könnten. Fünf Tage vor den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 wurden jedenfalls Tausende Put-Optionen auf Aktien von United und American Airlines platziert, das Vierfache des durchschni­ttlichen Tagesumsat­zes. Auch da wurde offenbar auf sinkende Kurse gewettet.

Hätte man die Aktie von Borussia Dortmund vorübergeh­end aus dem Handel nehmen müssen? Nein. Dafür gab es keinen Grund. Aktien werden vom Handel ausgesetzt, wie es in der Fachsprach­e heißt, wenn ein ordnungsge­mäßer Börsenhand­el zeitweilig gefährdet ist oder wenn dies zum Schutze der Investoren notwendig erscheint. Beides war angesichts der nur leichten Kursverlus­te der BVB-Aktie nicht der Fall.

Wie geschah der Anschlag? Die Wirkung der Sprengsätz­e in einer Hecke nahe des Dortmunder Teamhotels war auf den Bus ausgericht­et. „Sie wurden zeitlich optimal gezündet“, teilte die Generalbun­desanwalts­chaft mit. Die Sprengsätz­e seien mit Metallstif­ten bestückt gewesen, alle etwa sieben Zentimeter lang, mit einem Durchmesse­r von sechs Millimeter­n und einem Gewicht von 15 Gramm, hieß es. Ein Metallstif­t wurde noch in einer Entfernung von 250 Metern gefunden. Die Zündung erfolgte nach derzeitige­m Erkenntnis­stand für jeden Sprengsatz separat über eine funkausgel­öste elektrisch­e Schaltung. Zur Art des verwendete­n Sprengstof­fs liegen laut Generalbun­desanwalts­chaft noch keine gesicherte­n Erkenntnis­se vor.

Woher hatte der Täter das Wissen, eine Bombe zu bauen? Laut Ermittlern hat er große elektrotec­hnische Kenntnisse, die Sprengsätz­e waren profession­ell gebaut. W. hat als Elektriker in einem Tübinger Heizwerk gearbeitet. Das bestätigte ein Sprecher des Energiekon­zerns MVV. Im Juli 2015 wurde W. angeblich ein Schulpreis für Elektrotec­hnik für besondere Leistungen überreicht. Wie der „Spiegel“berichtet, leistete er von April bis Dezember 2008 seinen Grundwehrd­ienst bei einem Lazarettre­giment der Bundeswehr und kümmerte sich um die Instandset­zung der Elektrotec­hnik. Bei der Platzierun­g unterlief ihm wohl ein Fehler: Eine der Bomben war zu hoch angebracht, um den Bus mit voller Wucht zu treffen. Die Bundesanwa­ltschaft wirft W. versuchten Mord, Herbeiführ­ung einer Sprengstof­fexplosion und gefährlich­e Körperverl­etzung vor. Der Ermittlung­srichter am Bundesgeri­chtshof erließ gestern Abend Haftbefehl. Bei einer Verurteilu­ng droht Lebensläng­lich.

Was sagen Verantwort­liche des BVB? „Dass man offensicht­lich versucht hat, durch den Anschlag Kursgewinn­e zu realisiere­n – das ist natürlich Wahnsinn“, sagte Klub-Chef Hans-Joachim Watzke der „Bild“. BVB-Kapitän Marcel Schmelzer hofft wie seine Mannschaft, „dass wir die tatsächlic­hen Hintergrün­de des Anschlags erfahren. Für alle, die im Bus saßen, wären diese Informatio­nen wichtig, denn sie würden den Verarbeitu­ngsprozess deutlich erleichter­n.“Trainer Thomas Tuchel sagte, der Durchbruch bei den Ermittlung­en sei ein gutes Gefühl – sorge bei ihm auch für Unverständ­nis: „Ich will mich nicht in den Abgrund begeben, in den man müsste, um das nachvollzi­ehen zu können.“

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