Rheinische Post

Späte Reue in Amerikas Süden

In Georgia hat sich der Polizeiche­f einer Kleinstadt für einen 1940 begangenen Lynchmord entschuldi­gt – einen von vielen Tausend.

- VON FRANK HERRMANN

LA GRANGE Für Willie Edmondson ist es eine ferne Erinnerung, als läge ein Nebelschle­ier über dem Ort des Verbrechen­s. Seine besorgte Großmutter ermahnte ihn immer, sich besonders vorzusehen in dieser Ecke, acht Meilen außerhalb von La Grange im US-Bundesstaa­t Georgia, wo die Liberty Hill Road einen Stausee streift und durch dichtes Waldgebiet führt.

„Nimm dich in Acht, am besten, du machst einen großen Bogen darum“: Die Worte klingen ihm noch in den Ohren. Irgendwo hinter dem Stausee, wusste „Grandma“Minerva, wurde ein schwarzer Teenager tödlich verletzt aus einem Auto gestoßen, nachdem ihm ein Mob weißer Rassisten eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Den Namen des Opfers nannte sie nicht, jedenfalls kann sich Willie Edmondson an keinen Namen erinnern.

Mit der Zeit habe er dann verdrängt, was die Älteren über die Liberty Hill Road erzählten. Es sei ja nicht so gewesen, dass nur dort Gefahr drohte. Nach den strengen Regeln, die Grandma Minerva aufstellte, erinnert sich der 63-Jährige, musste er jedes Mal anrufen, bevor er im Dunkeln von irgendwohe­r nach Hause fuhr. Traf er nach einer bestimmten Zeit nicht ein, machten sich seine Eltern auf den Weg, um nach ihm zu suchen.

Für den Fall, dass hinter Willie die Sirene eines Polizeiaut­os aufheulte, was in Amerika meist bedeutet, dass man bei einer Tempokontr­olle gestoppt wird, lautete der dringende Rat: langsam weiterfahr­en, bis Menschen in der Nähe sind, eine Tankstelle, ein Supermarkt, potenziell­e Augenzeuge­n. „Es ist doch ständig etwas passiert“, sagt der hochgewach­sene Mann, der inzwischen als Ratsherr in der Gemeindeve­rwaltung von La Grange sitzt. „Du musstest ständig auf der Hut sein, und nicht nur an der Liberty Hill Road.“

Mit 76 Jahren Verspätung hat klare Konturen bekommen, wovor Minerva Edmondson ihren Enkel immer warnte. An einem südlich milden Januartag fuhr Louis Dekmar, der Polizeiche­f der 31.000-Einwohner-Stadt im einstigen Baumwollgü­rtel Georgias, in die größte afroamerik­anische Kirche des Orts, um in aller Form um Verzeihung zu bitten. Er bedauere aufrichtig, welche Rolle die Polizeitru­ppe von La Grange bei einem Lynchmord gespielt habe, „durch unser Handeln genauso wie durch unser Nichthande­ln“, sagte Dekmar in der überfüllte­n Warren Temple Methodist Church: „Es hätte nie passieren dürfen.“Es war das erste Mal in Georgia, dass sich ein Ordnungshü­ter für ein solches Verbrechen entschuldi­gte.

Wenn Dekmar darüber spricht, spricht er so sachlich und leise, als wäre ihm fast schon peinlich, dass die Leute nun über ihn sagen, er habe Geschichte geschriebe­n. Er scheint keiner zu sein, der gern im Rampenlich­t steht. Statt Uniform trägt er Zivil, was er damit begründet, dass er als früherer Kriminalko­mmissar gern festhalte an alten Gewohnheit­en. Relevant ist wohl noch, dass Louis M. Dekmar, der Sohn ungarische­r Einwandere­r, nicht aus dem tiefen Süden der USA stammt, sondern aus dem Vorortgürt­el New Yorks, von wo seine Familie in den Pazifiksta­at Oregon zog.

Den Netzwerken der „Good Old Boys“, zu denen alte Südstaatle­r ihre Seilschaft­en verklären, hat er nie angehört. „Nun ja, ich schleppe nicht so viel Gepäck mit mir herum. Vielleicht fiel es mir leichter als Leuten, die immer nur hier gelebt haben.“Für einen alteingese­ssenen Weißen aus La Grange, glaubt Dekmar, wäre es schwerer gewesen, das Kapitel Austin Callaway aufzuarbei­ten. Er hätte wohl Rücksicht nehmen müssen, auf Familienba­nde, auf die Good Old Boys.

Austin Callaway, so hieß der Teenager, der an der Liberty Hill Road verblutete. Am 8. September 1940 starb er, 16, 17 oder 18 Jahre alt, so genau wusste es keiner. Tags zuvor war er festgenomm­en worden, weil er versucht haben soll, eine weiße Frau anzugreife­n. Abends fuhren sechs bewaffnete Männer zum Rathaus, in dessen Keller das Polizeigef­ängnis untergebra­cht war. Die Gesichter unter Kapuzen getarnt, verschafft­en sie sich Zutritt zu Callaways Zelle und zerrten den Jungen in ein Auto. Die zuständige­n Beamten, sagt Dekmar, hätten es geschehen lassen und damit Schuld auf sich geladen. Und wer ihn frage, warum lässt du die Leichen nicht im Keller, warum rührst du an der Sache, dem könne er nur erwidern, dass es eben nicht nur um die Vergangenh­eit gehe. „Mit der Vergangenh­eit ist es wie mit einer Brille, durch die wir die Gegenwart betrachten.“Das Misstrauen, mit dem schwarze Bewohner La Granges den Cops noch immer begegnen, habe auch mit dem Mord an Austin Callaway zu tun: „Weiße Polizisten wurden als Komplizen einer Mordbande gesehen, das ist die Brille, von der ich rede. Ich kann das entweder ignorieren oder darauf eingehen, es ist meine Entscheidu­ng.“

In afroamerik­anischen Familien, das weiß Willie Edmondson, wurde von Generation zu Generation weitergege­ben, was sich 1940 zugetragen hatte, wenn auch mit wachsen- dem zeitlichen Abstand immer verschwomm­ener. In den offizielle­n Annalen der Stadt, das weiß Louis Dekmar, fehlt dagegen jeder Hinweis auf das Verbrechen. In Archiven suchte er vergebens nach einer Akte, einem Protokoll, dem Bericht eines Ermittlers. Das Einzige, was er fand, war eine dürre Meldung, erschienen auf der sechsten Seite der Lokalzeitu­ng. „Neger erliegt Schussverl­etzungen“, zitiert Dekmar die Überschrif­t.

Die Aufarbeitu­ng der Geschichte, begonnen hat sie vor drei Jahren damit, dass zwei Frauen, beide betagt, beide schwarz, auf Dekmars Revier vor vergilbten Fotos standen und die eine zur anderen sagte: „Der dort hat unsere Leute auf dem Gewissen.“Eine Polizistin, die es zufällig hörte, erzählte es ihrem Chef, der sich zwar keinen Reim darauf machen konnte, aber instinktiv begriff, dass er der Sache auf den Grund gehen musste. Bald hatte er auch den Bürgermeis­ter auf seiner Seite, den 43-jährigen Juristen Jim Thornton, der von sich sagt, dass er ein „Southern White Boy“sei, ein weißer Junge aus dem Süden, was ein bisschen nach Seilschaft­en klingt. Nach und nach weitete sich die Recherche zu etwas aus, was Thornton eine über- fällige Nacherzähl­ung nennt. Auf die Spur der Täter führte sie nicht, aber schwarze Pastoren erzählten von den Seelenqual­en ihrer Gemeinden, und das weiße La Grange hörte Geschichte­n, von denen Jüngere wie Thornton nicht die leiseste Ahnung hatten.

Bryan Stevenson steht vor einem vier Meter hohen Regal voller Einweckglä­ser. Nur dass die Gläser kein Kompott enthalten, sondern Erde, rote, schwarze, sandgelbe Erde. Der Rechtsanwa­lt, ausgebilde­t in Harvard, leitet die Equal Justice Initiative (EJI), eine in Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, angesiedel­te Organisati­on von Juristen. Die Erde in den Gläsern ließ er überall dort einsammeln, wo ein Mensch durch Lynchjusti­z ums Leben kam. Gut sechs Jahre hat die EJI bislang damit verbracht, Lynchmorde zu dokumentie­ren, insgesamt über 4000, begangen in zwölf Bundesstaa­ten.

Als die Schreckens­serie 1877 begann, ging es dem alten Süden nach Stevensons Worten darum, die Sklaverei, die mit dem Ende des Bürgerkrie­gs abgeschaff­t war, mit anderen Mitteln fortzusetz­en, mit den Mitteln rassistisc­hen Terrors. „Wobei die Terroriste­n brave Bürger waren, Banker, Lehrer, Ärzte.“Wo immer es passierte, findet er, sollten die lokalen Polizeiche­fs dem Beispiel Dekmars folgen und sich dafür entschuldi­gen, dass ihre Vorgänger, dem Namen nach die Garanten von Recht und Ordnung, entweder mitgewirkt oder weggeschau­t haben.

Der Anfang einer langen Reise, so sieht es Willie Edmondson. „Es ist nicht so, dass der Albtraum über Nacht aus unseren Köpfen verschwind­et. Dazu war er zu heftig“, sagt der Ratsherr. Doch immerhin habe man angefangen, Wunden zu heilen, das sei schon viel. Seit der dritten Märzwoche erinnert auch eine Gedenktafe­l, angebracht am alten Gefängnis, an Austin Callaway.

Newspapers in German

Newspapers from Germany