Rheinische Post

Das Heim, in dem alles begann

Ende der 1980er Jahre brachte ein Ehepaar aus dem Westerwald den Mut auf, ein Kind aus Indien zu adoptieren. Mit 28 Jahren hat nun Mario Tony Rötzel zum ersten Mal das Waisenhaus besucht, in dem seine Mutter ihn zurückließ.

- VON JESSICA BALLEER

KÖLN/NEU DELHI Im Januar 1989 bringt eine junge Inderin einen Sohn zur Welt. Ein Baby, mit dem sich die vermutlich unverheira­tete Frau überforder­t fühlt. Ein Baby, das sie nicht behalten kann – oder darf. Sie macht sich in Neu Delhi auf die Suche nach einem Ort, an dem sich liebevolle Hände um ihr Kind kümmern sollen. Sie klopft beim Waisenhaus der „Mother Teresa Missionari­es of Charity“an, gibt den wenige Tage alten Säugling namens Tony in die Hände der Nonnen. Und dann geht sie, ohne ihren Namen zu hinterlass­en. Auch deswegen ist dies nicht die Geschichte der jungen Frau, sondern die von Mario Tony Rötzel. Die Regierungs­auflagen seien zu hoch, die Kontaktauf­nahme über das Internet zu einem Handel verkommen. Nicht das, was Mutter Teresa einst für Indien wollte: Abtreibung­en reduzieren und Waisen die Chance auf ein gutes Leben geben.

Die Zahl der Adoptionen ist in Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren stark gesunken. Auch die aus Indien. Verbessert­e Lebensverh­ältnisse dort und strengere Auflagen hierzuland­e sind Gründe dafür. Das Statistisc­he Bundesamt erhebt die Adoptionsz­ahlen seit 1991. Laut Statistik sind 1992 insgesamt 168 Kinder aus Indien adoptiert worden. 2015 waren es nur neun. Etwa so viele, wie derzeit noch im Waisenhaus im Neu Delhi leben.

Die Schwestern führen Mario in die erste Etage. Es duftet nach Chapati-Brot und süßem Haferschle­im. Kinder spielen. Ein paar Spiele gibt es auch, mit einem deutschen Kinderzimm­er ist das aber kaum zu vergleiche­n. „Ziemlich sauber“, sagt der Gast nur. Er hat den Kindern Buntstifte mitgebrach­t. Die Kleinen bilden eine Traube um ihn, ein Junge stellt sich vor. Rahul ist elf, vielleicht zwölf Jahre alt. Mit großen Augen schaut er Mario Rötzel an, und man kommt nicht um den Gedanken herum, es sich vorzustell­en: Blickt Mario da in eine Vergangenh­eit, die ihm erspart blieb? Rahuls Zukunft scheint besiegelt. „Die Kinder bleiben bei uns und helfen später in der Mission“, sagt die Nonne. In der zweiten Etage werden behinderte Säuglinge betreut. Sie liegen in dem Schlafzimm­er, in dem auch Mario einst gewickelt wurde, geschlafen und geschrien hat.

Nach einer knappen Stunde ist es Zeit zu gehen. Die Schwester erzählt aber noch von einer Tradition: Immer dann, wenn ein Kind adoptiert wurde, hatten sie eine Kerze angezündet. Mario darf das auch diesmal tun. Als er die Kapelle verlässt, denkt er an seine Kindheit. Natürlich, sagt er, habe es auch mal Probleme gegeben. „Sprüche wegen der Hautfarbe gibt es nicht nur auf dem Dorf.“Ein Außenseite­r sei er aber nie gewesen, in dem 1000-Seelendorf, das seine Heimat wurde.

Das Auto wartet. Letzter Halt ist die Bar des Hotels, in dem sein deutscher Vater 1989 übernachte­t hatte. Mario bestellt ein Bier – wirkt erleichter­t und beschwert zugleich.

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